Rolf Rietmann

«Pornosucht ist nie harmlos»

Die aktuellen Isolationsmassnahmen bringen nicht nur Verlierer hervor, sondern auch Gewinner. Zu diesen gehört traurigerweise auch die Pornobranche. Die Zugriffe auf Pornowebseiten stiegen in den letzten Wochen stark an. Livenet sprach mit Rolf Rietmann vom Verein «wüstenstrom», der schon seit Jahren Menschen begleitet, die unter Pornosucht leiden.

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Rolf Rietmann (Bild: zVg)
Wie weit ist der Pornokonsum bereits in unserem Alltag und in unserer Kultur angekommen?
Rolf Rietmann:
Pornografie ist in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Die neuesten Zahlen sind höchst alarmierend – auch in unseren Gemeinden. Es ist ein Massenphänomen. Neuere Studien gehen davon aus, dass 93 Prozent der Männer und 57 Prozent der Frauen im letzten Jahr mindestens einmal Pornografie konsumiert haben. Davon dürften mehr als 25 Prozent einen süchtigen Konsum haben. 3 Prozent haben einen sehr exzessiven Gebrauch von Pornografie – mehrmals täglich. Ich nenne es die Pest des 21. Jahrhunderts – so alarmierend sind die Zahlen.

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Gestiegene Nachfrage von Online-Pornos während des Corona-Lockdowns.
Wie geht es der Porno-Industrie? Immer noch wachsend oder doch am Stagnieren?
Ganz klar wachsend. Und wie! Ein bekannter Anbieter, von dem wir jährlich konkrete Zahlen ablesen können, verbucht seit Jahren einen massiven Zuwachs im Traffic (Gesamtheit der übertragenen Daten). Allein zwischen 2018 und 2019 betrug der Zuwachs unglaubliche 30 Prozent. Es gibt Fussballmannschaften, die Leibchen mit Werbung von diesem Pornoanbieter tragen. Damit verknüpft sich die Pornografie zunehmend mit dem Alltag. Die Botschaft gerade an unsere Kinder: Porno ist normal.

Eines wird aber gar nicht wahrgenommen: Während Männer anfällig auf die «nackten Tatsachen» der Pornoindustrie sind, verlieren sich junge Frauen deutlich stärker in Chatforen oder Netflix-Serien. Im Zusammenhang dieser Serien laufen bei ihnen genauso erotische und romantische Fantasien ab, wie Jungs sexuelle Fantasien in Pornos projizieren, haben Studien festgestellt. Leider überwinden diese Frauen ihre Serien-Sucht schwerer als junge Männer die Pornosucht. Warum? Weil Frauen Facetten einer Beziehung mit den Serien ineinander verknüpfen und sich so mit ihrer Identität noch viel mehr auf die Medien einlassen als die Jungs.

Wie wirkt sich dieses riesige pornografische Angebot, das per Mausklick zu erreichen ist, konkret auf den Alltag und die Beziehungen aus?
Die niederschwellige, allzeitige und kostenlose Verfügbarkeit ist maximal suchtfördernd. Die Paarbeziehung leidet sehr. Der Trend: Die Sexualität verlagert sich vom Ehebett hin zum Bildschirm. Es beeinflusst das Männer- und Frauenbild negativ. Die Frauen in den Pornos stellen einen sehr kleinen Ausschnitt einer Beziehung dar. Sie müssen keine Kinder versorgen, ihre Arbeit erledigen, sind nie müde und unwillig. Sie ekeln sich vor nichts. Er wird nie abgewiesen usw. Der Mann muss sich also innerhalb der Pornos dieser Realität nie stellen. Dies kann die Partnerin unter massiven Druck stellen im Aussehen, Verfügbarkeit und Technik.

Dann kann man also klar sagen, dass sich der Kampf gegen Pornografie sehr für Beziehungen lohnt.
Unbedingt. Die Pornografie gaukelt uns eine Pseudobeziehung und -befriedigung vor und lässt uns allzu oft umso einsamer zurück. Der Fokus liegt einseitig auf dem Lust-Kick. Dann hat die Pornografie immer einen doppelten Blickwinkel. Einerseits sind wir die Voyeure, die heimlichen Zuschauer, und andererseits sind wir immer auch ein Teil des Plots von dem, was wir da anschauen. In der Beratung stellen wir uns nach dem Entzug auch diesem Thema. Warum schaue ich gerade diese Form von Pornos? Da entdecken Männer, dass sie sich in der Partnerschaft z.B. schlecht ausdrücken und kaum durchsetzen können. Sie schauen Pornos – und das ist nach 20 Jahren Beratungserfahrung nicht zufällig –, wo es um Macht und Dominanz geht. Und sie merken: Ich lebe in der Pornografie etwas aus, was im echten Leben nicht geschieht oder schlecht gelingt und woran ich eigentlich leide.

Finden nach Ihrer Erfahrung viele Pornosüchtige, die frei werden möchten, auch einen Weg in die Freiheit?
Das ist die gute Botschaft: Freiheit ist möglich! Wie bei allen Süchten spielen viele Faktoren bei einem erfolgreichen Prozess mit. Je später jemand mit dem Konsum beginnt und je schneller jemand Hilfe sucht, das sind schon mal zwei wichtige Kriterien. Wir beobachten, dass die einen ihren Konsumlevel für lange Zeit halten können, wo es bei anderen innert kürzester Zeit völlig eskaliert. Wir beobachten aber auch, dass nicht wenige nicht oder nie wirklich frei werden. Pornosucht ist nie harmlos. Wenn ich meine Ratsuchenden Frage, welche Botschaft würdest du Jugendlichen geben, so sagen viele: «Fangt nie damit an!»

Im November 2019 fand die Porno-frei-Konferenz in Aarau statt, bei der Sie persönlich als Referent und «wüstenstrom» als Trägerorganisation engagiert waren. Was erhoffen Sie sich in Zukunft?
Ich habe mich sehr gefreut, dass sich rund 300 Menschen getroffen haben, um sich über dieses Thema zu informieren. Wir haben sehr viele gute und ermutigende Feedbacks bekommen. Ein entscheidender Schritt ist getan: Wir müssen ein Bewusstsein für die Dringlichkeit dieser «Pest des 21. Jahrhunderts» schaffen. Eltern, Erzieher und die geistlich Verantwortlichen müssen sensibilisiert und aufgerüttelt werden. Wir werden an unserer Jugend schuldig, weil wir sie in diesem Thema fast komplett allein lassen. Da haben wir im November einen guten Anfang gemacht! Nun gilt es, unbedingt dranzubleiben.

Webseite mit Beratungsangeboten für Pornosüchtige:
porno-frei.ch

Zum Thema:
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Erste «Porno-frei»-Konferenz: «Pornografie ist ein gesellschaftlicher Flächenbrand»

Datum: 06.05.2020
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet

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