Professor Gian Domenico Borasio
Wie man von Sterbenden das Leben lernt
Wer die eigene Gesundheit als oberstes Ziel wählt, hat nur 53 Prozent erfüllte Lebensqualität im Sterben, 100 Prozent haben diejenigen, die lieben und geliebt werden. Das erklärte der Chefarzt des Universitätsspitals Lausanne kürzlich in einem packenden Vortrag in Aarau.
Gian Domenico Borasio, Professor für palliative Medizin und Chefarzt am Universitätsspital Lausanne, forderte die Anwesenden in Aarau auf, sich den eigenen Tod vorzustellen: Als sofortiges Totsein, als mittelschneller Tod (Zeit: etwa drei Jahre) und als langsamer Tod bis hin zur Demenz. Die dritte Möglichkeit werde immer realistischer, und die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit sei heute offensichtlich.Auch der Wunsch, zu Hause in der Familiengemeinschaft zu sterben, lasse sich gemäss Borasio beim alten Menschen nicht mehr einfach verwirklichen; nur bei zehn bis zwanzig Prozent der Menschen sei es erfüllbar. Wer Menschen im Sterben begleite, erfahre selbst eine Bewusstseinserweiterung in die Vergänglichkeit des eigenen Lebens: «Es ist eine einmalige Chance, von den Sterbenden das Leben zu lernen.»
Anhand von Beispielen schilderte Borasio die oft radikalen Veränderungen in der Lebensperspektive von Menschen, die an einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden. Plötzlich sei die Zeit begrenzt. Deshalb sei eine der wichtigsten Botschaften von Spiritual Care: «Wenn wir unsere Vergänglichkeit akzeptieren, wenn wir unsere Anhaftung an den Dingen, so wie sie sind, loslassen, dann öffnen wir uns zur Gnade.»
Nächstenliebe im Sterben eine Verbesserung
Anhand einer wissenschaftlichen Studie zeigte Borasio, wie die Werte Gesundheit und liebende Familiengemeinschaft die Menschen am Lebensende beeinflussten. Wer die eigene Gesundheit als oberstes Ziel wähle, habe 53 Prozent erfüllte Lebensqualität in einer «schwerkranken» Situation oder im Sterben, 100 Prozent habe derjenige, der liebe und geliebt werde.
Christliche Nächstenliebe, so der Palliativmediziner, sei immer eine Verbesserung der Lebensqualität. Diese Erkenntnis, dieser spirituelle Blick gehöre zum Leben und erleichtere das Sterben. Die moderne Palliative Care biete viel mehr als Morphium und Händchenhalten, so Borasio. Sie sei der Hightech auf medizinischem Gebiet gleichwertig und müsse daher im Medizinstudium dringend als Pflichtfach eingeführt werden.
Borasio ist der einzige Inhaber eines Lehrstuhls für palliative Medizin in der Schweiz. Er wurde im Rahmen der interdisziplinären Lehrgänge in Palliative und Spiritual Care der reformierten Landeskirche Aargau am 11. September nach Aarau eingeladen.
Quelle: ref.ch