Narzissmus
Grössenwahn und Schönheitskult
Der mediale Boom von Castingshows wie «Musicstar» ist ungebrochen. Seit Anfang 2011 suchte das Schweizer Fernsehen schon zweimal das «Grösste Schweizer Talent». Die Psychologie bezeichnet den neuen Drang zur Selbstdarstellung im Fernsehen mit einem alten Begriff aus der Mythologie: Narzissmus.
Narzissmus lässt sich mit «Selbstverliebtheit» übersetzen. Die narzisstische Person findet sich grossartig, empfindet einen Hunger nach Bewunderung und zeigt gleichzeitig wenig Einfühlungsvermögen in die Gefühle anderer Menschen. Um eigene Ziele zu erreichen, ignorieren Narzissten die Bedürfnisse Anderer oder beuten sie im Extremfall aus.
Der Narzissmus war noch nie so verbreitet wie heute. In aktuellen Untersuchen zeigt jeder vierte Studierende erhöhte Narzissmus-Werte. Welches sind die Ursachen für diese gesellschaftliche Entwicklung? Ältere Erklärungsmodelle sehen den Ursprung einer narzisstischen Entwicklung in einem Mangel an Aufmerksamkeit und Zuneigung in der Kindheit. Dieser Mangel führt zu einem Minderwertigkeitskomplex. Der narzisstische Mensch kompensiert seinen tiefen Selbstwert durch übersteigerte Selbstbilder.
ICH-Inflation
In neuerer Zeit hat sich aber gezeigt, dass auch das Gegenteil von mangelnder Aufmerksamkeit zu Narzissmus führen kann: Verwöhnung. Welche Eltern aus der Mittelschicht halten ihr Kind heute für nur «durchschnittlich»? Viele heutige Kinder lernen, dass sie etwas Besonderes sind und sich alles um sie dreht. Wenn sich das überdurchschnittliche «Talent» dann im Laufe des Lebens nicht bewahrheitet, bleibt nur die Flucht in die «Illusion», um den Selbstwert nicht zu gefährden.
Der deutsche Sozialpsychologe Hans-Werner Bierhoff spricht von einer «ICH-Inflation». Sie habe sich so stark entwickelt, weil die sozialen Normen in den letzten 50 Jahren in den westlichen Kulturen stark abgenommen hätten. In diesem Vakuum konnte sich ein «offensiver» Narzissmus ideal verbreiten.
Täuschende Vorbilder
Als Orientierung dienen den Jugendlichen Vorbilder im Showbusiness – sie werden in eine narzisstische Gesellschaft hinein sozialisiert. Auf «Pro7» wurde bereits zum siebten Mal «Germany’s next Topmodel» gesucht. Bisher haben sich 13'374 junge Frauen in 21 deutschen Städten persönlich beworben. Der weiblichen Schönheit wurde immer schon gehuldigt – aber der Schönheitskult war wahrscheinlich noch nie so stark wie heute.
In Untersuchungen zeigt sich immer wieder dasselbe Resultat: Wer als «schön» bewertet wird, gilt gleichzeitig auch als «intelligent», «sympathisch» und «erfolgreich» – dies nur aufgrund des äusseren Eindruckes auf einer Foto. Die Realität für die oben genannten jungen Frauen ist hart: Tatsache ist, dass die Mehrheit der Menschen nur durchschnittlich «schön», «intelligent» und «talentiert» ist.
Gemässigter Narzissmus
Die Vermutung liegt nahe, dass sich der narzisstische Virus auch in christlichen Gemeinden eingenistet hat. Eigentlich hätten Christen in einer narzisstischen Gesellschaft aber die Möglichkeit, Gegensteuer zu geben. Narzissten leben in der ständigen (bewussten oder unbewussten) Angst, dass die Illusion ihrer Grandiosität zerstört wird. Anerkennung ist ihnen wichtiger als Liebe. Christen erfahren bei Gott, was es heisst, bedingungslos geliebt zu sein. Anerkennung ist für sie deshalb weniger wichtig.
Mit diesem fundierten Selbstwert können sie sich beispielsweise in der Politik von einem oberflächlichen Erfolgs- und Geltungsdrang abheben und nachhaltiger arbeiten. Der Erfolg wird sich früher oder später einstellen – oder etwa doch nicht? Ganz ohne Selbstdarstellung wird es wohl nicht gehen, eine übertriebene «Demut und Bescheidenheit» ist hier nämlich nicht gemeint. In Politik, Werbung, Kunst usw. braucht es ein gesundes Mass an Selbstbewusstsein, Extraversion und Initiative. Bierhoff spricht von einem «gemässigten» Narzissmus, wenn zu «Eigenverantwortung» auch «Sozialverantwortung» gehört und im Berufsleben der Aufbau einer «positiven Selbstidentität» gefördert wird. Christinnen und Christen sind herausgefordert, diese Begriffe in einer narzisstischen Gesellschaft mit Leben zu füllen.
Diesen Artikel hat uns das Magazin INSIST zur Verfügung gestellt.
Der Autor Beat Stübi ist Psychologe FSP und CEO der «Stiftung sbe» für berufliche und soziale Eingliederung.
Autor: Beat Stübi
Quelle: Magazin INSIST