Dorfgeschichten
«Suchet das Beste fürs Dorf!»
Westliche Wirklichkeit: Christliche Familien besuchen gern Kirchen und Gemeinden in der Stadt – da wird etwas geboten. Leben tun sie dagegen lieber im «Speckgürtel» der Städte oder auf dem Land. Doch da engagieren sich viele von ihnen nicht weiter, weil Arbeit, Gemeinde, Vereine und Freunde sowieso in der Stadt angesiedelt sind. Huberta und Hans Reil machen es anders: Sie sind aufs Land gezogen und dort wirklich angekommen.Im Frühjahr 2018 packen Hans und Huberta Reil ihre Koffer und ziehen aus ihrer Stadtwohnung in ein Dorf mit 600 Einwohnern. Es ist ein Ort mit den typischen Eigenschaften kleiner Ansiedlungen: Es gibt weder einen Bäcker noch eine Tankstelle. In der Dorfmitte steht eine Friedenslinde und daneben ist die Bushaltestelle, über die man mit der «weiten Welt» in Verbindung ist.
«In so einem Umfeld will ich nicht wohnen»
Bei ihren Spaziergängen durch den Ort und unzähligen Zaungesprächen mit Nachbarn spüren Reils bald einen jahrelang aufgestauten Frust. Der eine Bewohner ist von den schnell vorbeifahrenden Autos genervt, der nächste von wild wuchernden Hecken auf dem Anliegergrundstück, wieder ein anderer von lauten Rasenmähern zur Mittagszeit. «In so einem Umfeld will ich nicht wohnen», unterstreicht Hans.
Er ist sich sicher, dass das eigentliche Problem in der Kommunikation liegt, also entwickelt er eine Idee. Er spricht so viele Nachbarn wie möglich persönlich an und verteilt Einladungszettel zu einem Treffen, um über die Schwierigkeiten ins Gespräch zu kommen. Zur ersten Zusammenkunft kommen 26 Leute. Jeder kommt zu Wort, um sein Anliegen mitzuteilen. Es wird freundlich diskutiert und am Ende jeweils ein Kompromiss entwickelt, mit dem alle leben können. Hans staunt: «Die Nachbarn halten sich tatsächlich an die Absprachen, auch heute noch!»
Reden über Gott und die Welt
Eigentlich ist Hans eher ein introvertierter Typ. Fremde anzusprechen, war für ihn lange Jahre völlig undenkbar. Als 24-jähriger Student ist er in einer Gruppe von Campus für Christus zum Glauben gekommen. Dort hat er gelernt, auf Menschen zuzugehen und Kontakte zu knüpfen, mit Leuten über Gott und die Welt zu reden. Er wurde dabei immer lockerer. Heute kommt Hans selbstverständlich und unkompliziert mit unbekannten Dorfbewohnern ins Gespräch.
Die Kirche als Ort der Begegnung
Selbstverständlich besuchen Huberta und Hans auch den Gottesdienst in der kleinen Kirche im Dorf. Beim ersten Mal bietet sich ihnen ein trauriges Bild: Sechs Personen sitzen etwas verloren in der hellen, gotischen Kirche. Nach der Predigt muss es schnell gehen. Hans erinnert sich, dass es sich wie ein Rausschmiss anfühlte, denn der Pfarrer musste direkt im Anschluss zu einem weiteren Gottesdienst in einer anderen Gemeinde. Seine Frau und er nehmen sich vor: «Wir wollen in der Kirche hier etwas bewegen.»
Zunächst arbeiten sie an der Gemeinschaft in der Gemeinde. Ihre Anregung, im Anschluss an den sonntäglichen Gottesdienst einen Kirchenkaffee anzubieten, wird vom Kirchenvorstand positiv aufgenommen und Stehtische werden angeschafft. Dieser Kirchenkaffee hat sich inzwischen als sozialer Mittelpunkt in der Dorfkirche etabliert. Es ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung, aber noch nicht das Ende von Ehepaar Reils Kreativität. Der Pfarrer erzählt ihnen, dass sich zu besonderen Events wie einer Taufe oder Goldenen Konfirmation die Besucherzahl potenziert: Bis zu 40 Menschen nehmen daran teil. Ob man die normalen Sonntagsgottesdienste so attraktiv gestalten kann, dass diese 40 Leute immer und gerne kommen?
Beziehungen sind der Schlüssel
Huberta Reil hat nach dem Wohnortwechsel ihre Arbeitszeit reduziert. Die gewonnene Zeit nutzt sie, um ältere Menschen im Ort zu besuchen. Dadurch sind bereits starke Freundschaften entstanden. Hans hat dafür weniger Muße – er renoviert und baut viel am Haus. Aber er wechselt mit jedem, dem er begegnet, ein paar Worte. Egal ob er gerade im Auto sitzt oder zu Fuß unterwegs ist. Kommunikation und Beziehungen aufbauen ist für die beiden der Schlüssel zum Herzen ihrer Nachbarn.
Reils haben noch einige weitere Begegnungen im Dorf initiiert: sei es ein gemeinsamer Frühlingsspaziergang, die Wiederbelebung des lebendigen Adventskalenders oder ein E-Mail-Newsletter, der über die Geschehnisse im Ort informiert. Ihnen geht es auch sehr nahe, dass hier enorm viele Ehen geschieden werden. Das Leid und die aus der Trennung oft resultierende Armut machen vielen Dorfbewohnern das Leben schwer. An dieser Stelle möchte das Ehepaar in Zusammenarbeit mit Familylife Paarbeziehungen vor Ort stärken. Etwas mehr als ein Jahr wohnen Hans und Huberta nun auf dem Land. Vieles haben sie seitdem in Bewegung gebracht – und die beiden sind noch nicht am Ende ihrer Ideen angelangt. Sie leben einfach das, was Jeremia in der Bibel in Bezug auf Städte formuliert: «Suchet das Beste fürs Dorf!» (frei nach Jeremia, Kapitel 29, Vers 7).
3 Tipps für Nachbarschaftsveränderer:
Erstens: Baue zunächst persönliche Beziehungen auf. Wir Christen kommen oft zu schnell mit dem Glauben. Gib erst etwas von dir selbst preis. Wer bist du? Wie denkst du und warum? Daran sind die Leute interessiert.
Zweitens: Hilf mit, Probleme zu lösen. Sie machen allen Schwierigkeiten und vergiften schnell das Klima. Setze dich da ein, wo du Kompetenz hast, um zu helfen. Wenn du selbst keine Ahnung von der Thematik hast, sprich jemanden an, von dem du glaubst, dass er Fähigkeiten hat. Das schafft Vertrauen und ein gutes Miteinander.
Drittens: Beachte die örtlichen Strukturen. Ziehe nicht einfach mit deiner eigenen Agenda los. Suche mit den wichtigen Persönlichkeiten deines Ortes das Gespräch, unter anderem mit dem Pfarrer. Nimm an örtlichen Ereignissen teil: Dorfbeiratssitzung, Vereinsleben, sei mal Wahlhelfer. So wirst du entdecken, wer die Schaltleute sind. Wenn man mit ihnen über die eigenen Ideen spricht, können einem auch ganz neue Blickwinkel geöffnet werden. Und wenn du den Dorf-Influencer mit im Boot hast, hast du gleichzeitig die beste Werbung.
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet, Nathalie Steinhauer (Impulse für ansteckenden Glauben)