Interview
Neue Väter sind gefragt
Francesco Pignalosa leitet das Christliche Therapiezentrum Siloah in Gümligen. Er ist selbst Vater, Berater von Vätern und leistet die Erziehungsarbeit im Jobsharing mit seiner Frau. Er hat sich wissenschaftlich ins Thema vertieft und verbindet sein Wissen mit seiner Alltagserfahrung.
Bausteine: Francesco Pignalosa, braucht es heute mehr Mut als früher, Vater zu werden?
Francesco Pignalosa: Ja, ich denke, dass dies für einen Grossteil der heutigen jungen Männergeneration tatsächlich zutrifft. Viele, die an der Schwelle zum Vaterwerden stehen, haben wenig väterliche Vorbilder erlebt, stammen vielleicht selbst aus Scheidungsfamilien und wurden von ihren Müttern erzogen. In ihrer Kindheit haben sie sehr oft nur wenig gute väterliche Erfahrungen sammeln können. Für sie ist Vater werden wie ein Sprung ins kalte Wasser, in etwas Unbekanntes hinein; sie betreten quasi Neuland. Dies erfordert sehr viel Mut, wie es überhaupt viel Mut zur Gründung einer Familie braucht.
Die Entscheidung, Vater zu werden, wird also bewusster getroffen als früher?
Die veränderten Männerbilder wirken sich auch im Bereich Vaterschaft aus: Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, dass zum Mannsein irgendwann eine Frau sowie Kinder gehören. Von „ungeplanter Vaterschaft“ einmal abgesehen, bietet die Familienplanung heute mehr Optionen an. Dies hat einerseits zu bewussterer Vaterschaft geführt, was aber nicht gleich zu setzen ist mit gelebtem Vatersein. Andererseits gestaltet sich der Umgang mit den „gewonnenen Freiheiten“ ungleich schwieriger und führt heutzutage mindestens so oft zu bewusstem „Vater-Verzicht“. Einem grossen Teil von Männern fällt es zunehmend schwer, sich für väterliche Verantwortung und Verpflichtung zu entscheiden.
Gibt es ein Kernereignis in ihrem Vatersein?
Die Geburt unseres ersten Kindes erlebte ich nicht nur als „Geburt der Familie“, sondern auch als die des Vaters: Diese verlief äusserst Kräfte raubend, kompliziert und langsam. Das Leben unseres (noch ungeborenen) Kindes hing an einem dünnen Faden. Über ein solches Krisenszenario hatten meine Frau und ich im Vorfeld gesprochen; auch über die Möglichkeit einer „notfallmässigen“ Geburt per Kaiserschnitt. Als hätten wir instinktiv geahnt, was auf uns zukommen könnte … Nachdem meine Frau nach über 50-stündigen Wehen aus Erschöpfung innerlich und äusserlich zusammenbrach und nicht mehr ansprechbar war, wusste ich, was es geschlagen hatte. Auch ich war physisch und psychisch völlig am Ende. Nun musste ich eine riesige Verantwortung auf mich nehmen und mit den Ärzten über die Möglichkeit eines Kaiserschnittes verhandeln.
Ich bekam es nun mit ungeahnten Ängsten zu tun, hatte den Eindruck, die Mutter und das Kind könnten es nicht schaffen – so wie es in früheren Jahrhunderten nicht selten der Fall war! Innerlich schrie ich und betete zu Gott. Mitten in der Nacht rief ich Freunde an und bat sie, für uns eine Gebetswache zu halten. Nach drei Tagen war es dann endlich geschafft, und von da an wusste ich, was es heissen kann, Vater zu werden bzw. zu sein! Diese Erfahrung hat uns als Familie stark zusammen geschweisst und sich nachhaltig und positiv auf die Beziehung zu meiner Frau und zum Kind ausgewirkt.
Kann man das Vatersein lernen?
Vatersein ist das Bezogensein auf eine Person. Es geht um die Qualität dieser väterlichen Beziehungsfähigkeit zu seinem Kind. Bis zu einem gewissen Grad sind Vatereigenschaften lernbar, obschon spezifisches väterliches Rollenverhalten stark vom selbst erlebten Modell abhängt. In meiner Beratungstätigkeit erlebe ich, dass viele junge Väter, die selbst nur wenig positive Vater-Erfahrungen haben, über ein sehr einseitig negatives Vaterbild verfügen und sehr beziehungsschwach gegenüber den eigenen Kindern sind. In der beraterisch-therapeutischen Arbeit, in der es immer auch um die Bedeutung und Funktion einer psychologischen Vaterfigur für die Entwicklung eines Kindes geht, spielt u.a. das Bewusstmachen von eigenen positiven Vatererfahrungen eine wichtige Rolle.
Eine solche „Entdeckungsreise“ bedeutet oft einen ersten Schritt hin zu einem veränderten Vaterbild und zur Aneignung neuer väterlicher Eigenschaften. Dabei muss es nicht immer um den eigenen Vater gehen. In ihrer Entwicklung haben Männern oft auch väterliche Seiten bei ihren Grossvätern, Lehrern, Trainern und anderen männlichen Bezugspersonen erlebt. Andererseits hat der eigene Vater in der Regel nicht auf der ganzen Linie versagt. Mir selber hat es sehr geholfen, mich in meiner seelsorgerlichen Arbeit mit meinem Vater auseinanderzusetzen. Dies hat zu mehr Verständnis und neuer Wertschätzung für ihn geführt und mich in meiner eigenen Vaterschaft positiv beeinflusst.
Für mich gilt letztlich: Man(n) wird nicht als Vater geboren, ein Vater wird man. Being by doing …
Was hat sich in den letzten 20 Jahren grundsätzlich am Vatersein verändert?
Dass es heutzutage neben dem MuKi-Turnen entgegenkommenderweise auch das VaKi-Turnen gibt, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass Männer in der Erziehung immer noch eine rare Spezies sind. Vor knapp einem halben Jahrhundert wurde der Zustand einer „vaterlosen Gesellschaft“ angeprangert. Durch Forschungsarbeiten in Psychologie und Pädagogik wissen wir inzwischen einiges mehr über die Bedeutung und Funktion des Vaters in der Entwicklung eines Kindes bzw. über die (Spät-)Folgen eines Mangels an erfahrener Vaterpräsenz. Diese Erkenntnisse haben aber nicht generell zu einer Umkehr der Verhältnisse geführt, im Gegenteil. Ich glaube, dass dieser Notstand sogar noch grösser geworden ist. Wurde das Phänomen der „vaterlosen Gesellschaft“ damals noch als Folge der Krieg führenden, abwesenden Männer betrachtet, kommt heute das Ehe-Scheidungs-Phänomen hinzu. Da nach wie vor die meisten Kinder bei einer Scheidung der Ehepartner den Müttern zugesprochen werden, kennen immer mehr männliche Jugendliche ihre Papis nur noch als Weekend- und Ferienmoderatoren. Es ist zu befürchten, dass die zukünftige Männergeneration über immer weniger gesunde Vatervorbilder verfügen wird. Heute stellt sich für viele junge Männer, die an der Schwelle zum Vaterwerden stehen, die quälende Frage, wie sie im „postmodernen Verhandlungshaushalt“ eine Grenzen setzende Autorität sein können.
Weshalb ist Vaterschaft heute für so viele Männer keine lockende Perspektive mehr?
Mit kleinen Kindern Zeit zu verbringen und sich in sie zu investieren, entspricht nicht männlichem Wertdenken. Die Welt des heutigen Mannes liegt in der Regel ausserhalb der eigenen vier Wände. Hier braucht es ein Umdenken, das im Herzen beginnt. Daneben gibt es jene Männer, die gerne möchten aber nicht können. Damit engagiertes Vatersein Realität werden kann, sind bessere Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefragt. Konkret heisst das: flexiblere Arbeitszeitmodelle auch auf Kaderstufe, Vaterschaftsurlaub usw. Hier brauchen wir eine aktive männliche „Vater-Politik“ …
Männer, die sich bewusst zum Vatersein entscheiden, nehmen diese Rolle aber ernster als früher ...
In der Tat, es gibt einige wenige dieser engagierten väterlichen Männer, die bewusst auf bestimmte Freiheiten verzichten, ihre Verantwortung zu Hause übernehmen und ihren Selbstwert nicht nur aus ihrem beruflichen Produktivsein schöpfen. Ich kenne solche Männer, die sehr viel Empathie für die Bedürfnisse ihrer Kinder entwickelt haben, die auch mit ihren eigenen Gefühlen gut umgehen können und ihren Frauen in ihrem Muttersein eine echte Stütze sind. Ich begegne in meiner Praxis jungen Männern, die sich an der Schwelle zum Vaterwerden sehr bewusst mit ihrer neuen Rolle auseinandersetzen.
Weshalb verzichten so viele Paare auf die Elternschaft? Welche Rolle spielen die Frauen dabei?
Hier gilt es zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Verzicht zu unterscheiden. Meine Frau und ich pflegen Kontakte mit einigen Ehepaaren, die ungewollt kinderlos sind. Das wirft viele Fragen auf und stimmt uns traurig. Andererseits gibt es das Negativbeispiel meines Herkunftlandes Italien, das vom kinderreichsten Land Europas in knapp einem Jahrzehnt zum kinderärmsten geworden ist. Dabei scheinen es vor allem die Frauen zu sein, die sich von der traditionellen Mutterrolle verabschiedet haben und sich lieber in Weiterbildung und Beruf investieren. In der Schweiz gibt oftmals die Anforderung des Berufes, verbunden mit der Angst, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen, den Ausschlag. Lange Ausbildungszeiten, wie etwa an den Unis, tragen dazu bei, dass der Kinderwunsch oft so lange hinausgeschoben wird, bis es aus biologisch-medizinischen Gründen immer schwieriger wird. Hinter einer Verweigerung zur Elternschaft steckt ferner nicht selten auch ein Lebensstil, der dem Lustprinzip huldigt.
Wie hat sich die gesellschaftliche Stellung der Väter bzw. Mütter verändert?
Es wirkt paradox, aber ich erlebe es nicht selten: Es braucht für eine Frau heutzutage eine gewisse Portion Mut, hin zu stehen und zu sagen, dass sie durch ihr Muttersein ausgefüllt und glücklich ist. Wirtschaft und Werbung propagieren die erfolgreiche „Power-frau“, die gleich mehrere Ämter und Funktionen bekleidet und natürlich auch noch Mutter ist. Solche Frauen mag es geben, aber es sind einzelne. Für viele andere Frauen führt das in einen riesigen Stress, weil sie den sich selbst auferlegten Rollen nicht genügen können. Hier macht sich ein Trend breit, der letztlich auf Kosten der Kinder geht: Zur väterlichen emotionalen Abwesenheit gesellt sich zunehmend die mütterliche.
Andererseits hat Elternschaft in einer Gesellschaft, die immer weniger Nachwuchs hat, an sozialer und wirtschaftlicher Bedeutung gewonnen. Stichworte sind hier „Steuersenkungen für Familien“, „Erhöhung von Kinderzulagen“, etc.
Der Anspruch, sich zum Vatersein – auf Kosten der Berufsarbeit – mehr Zeit zu nehmen, scheint vielen Männern noch anrüchig zu sein.
Hier muss zwischen Anspruch und Realität unterschieden werden: Studien zeigen, dass nicht wenige Männer vor einer Vaterschaft bereit sind, an der Erziehungsarbeit aktiv mit zu wirken. Ist das Kind dann da, haben sich die guten Vorsätze aufgelöst … Allerdings gibt es in den meisten Arbeitsbereichen (ausser evtl. im sozialen Bereich) von Arbeitgeberseite her wenig Anreize, Beruf und Familie zu verknüpfen. Hier besteht Nachholbedarf. Männer in Kaderpositionen haben Angst vor einem „Karriere-Knick“.
Der Mangel an väterlichen Vorbildern ist ein weiterer Grund. Und: Mütter treffen auf andere Mütter; als Vater, der sich in die Kinder investiert, habe ich in unserem Dorf keine väterlichen Gegenüber unter der Woche. Dazu kommt, dass sich viele Väter in der Welt der Babys und Kleinkinder schlicht nicht auskennen: Hier begegnen sie dem Präverbalen, dem Gefühlsmässigen und dem Unkontrollierbaren. Digitales und Vernunft sind hier fehl am Platz. Das kann überfordern …
Können Vater und Mutter ihre Rolle einfach austauschen?
Meiner Ansicht nach ist der Mensch nur als Mann und Frau Abbild Gottes. Mann und Frau braucht es nicht nur für die Zeugung, sondern auch als Vater und Mutter in der Erziehung. Viele Studien zeigen, wie unterschiedlich Väter und Mütter mit ihren Kindern umgehen. Von dieser Andersartigkeit profitieren Kinder wirklich, und das spricht gegen eine Austauschbarkeit der elterlichen Rollen. Väter beeinflussen z. B. die Motorik und das motorische Spielverhalten stärker. Im Spiel mit ihren Kindern vermitteln sie mehr visuelle und akustische Stimulationen als die Mütter. Ihnen ist die Förderung der Autonomie von grosser Bedeutung, und sie geben ein Modell ab für eine gelingende Aussenorientierung. Die Mutter ist in der Regel eher zuständig für Gefühle, Körperkontakt und Nähe. Erziehen Väter alleine – was selten ist – entwickeln sie aber auch solche feminine Soft-Skills (Einfühlungsvermögen, Sozialkompetenz, etc.).
Was würden Sie vermissen, wenn Sie nicht Vater geworden wären?
Trotz zeitlichem und energiemässigem Aufwand und trotz allem Verzicht, der mit dieser Rolle einher geht, hat Vatersein für mich etwas tief Beglückendes und Befriedigendes. Es hat für mich in gewissem Sinn mit Lebensqualität zu tun; eine Qualität, die ich von der Erwachsenenwelt so nicht kenne. Das aktive Begleiten meiner Kinder in ihrer Entwicklung und das Mitgestalten ihres Lebens empfinde ich als echtes Privileg. In diesem Bereich stellt sich für mich die Sinnfrage nie. Die Welt mit den Augen meiner Kinder zu sehen, ermöglicht immer wieder neue Entdeckungen und führt mich in eine Art „Perspektiven-Vielfalt“, die ich nicht missen möchte. Andererseits kann ich in meiner beraterischen Tätigkeit Ratsuchenden meine Vater-Erfahrungen zur Verfügung stellen und anderen Vätern in ihrer Situation besser nachspüren. Und von Müttern – auch alleinerziehenden – werde ich als vertrauenswürdiges Gegenüber und vatererfahrener Gesprächspartner geschätzt.
Webseiten:
www.eVBG.ch
www.eBausteine.ch
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Bausteine/VBG