Dem Geheimnis auf der Spur

Ein Mann aus der Provinz war Jesus, mit Steinen und Staub, Schweiss und Schwielen vertraut. Aber wenn er auftrat, schien eine höhere Macht Regie zu führen. Wie konnte er hinter alle Fassaden blicken und finsteren Mächten die Stirn bieten? Die vier Evangelien der Bibel ergeben zusammen ein faszinierendes Bild des Mannes aus Nazareth. Es gewinnt umso mehr Facetten, je länger man die vier Berichte miteinander liest.

Die vier Evangelien stammen von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Der erste und der vierte Autor wandern jahrelang mit Jesus durchs Land, der zweite ist unter seinen ersten Anhängern in Jerusalem, der dritte begleitet den Apostel Paulus und spricht später mit zahlreichen Augenzeugen. Alle vier gehören zu der ersten Generation von Christen. Sie bilden in ihren Berichten ab, was diese Christen von Jesus wissen und ihrer Umgebung weitergeben. Dabei wählen die Autoren aus einer Unzahl von Begebenheiten einige der prägnantesten (Wunder!) aus und verweben diese Action mit ‚Message', mit Auszügen aus den Predigten, die er landauf landab gehalten hat.

Unterschiedliche Akzente

Man kann sich fragen, welchen Sinn es macht, dass vier Evangelisten den Weg eines Mannes beschreiben. Die ersten drei tun dies oft parallel, schildern die gleichen Begebenheiten ähnlich, aber im Detail nicht gleich, setzen daneben unterschiedliche Akzente. So wird die Weihnachtsgeschichte zweimal erzählt: von Lukas aus der Perspektive der Mutter Maria, von Matthäus aus der Sicht ihres Mannes Josef. Markus lässt die Geburt von Jesus ganz weg. Johannes setzt nochmals anders an, indem er Jesus als den Logos vorstellt, das schöpferische Wort, das vor aller Zeit bei Gott war, bevor es durch die Geburt Mensch wurde. Zudem hat Johannes eine eigenartige Sprache - als hätte er in langem Nachsinnen über die Predigten von Jesus Kernsätze destilliert. Sätze, die immer wieder die Verbindung von Jesus zu seinem Vater im Himmel ansprechen.

Uralte Vision

Die Evangelien ergänzen einander; einzeln und in ihren gegenseitigen Bezügen erlauben sie eine Annäherung an das Geheimnis der Person von Jesus. Er ist viel mehr, als seine einfache Herkunft erwarten liesse. Eine besondere Rolle spielen dabei die Zitate und Anspielungen auf das Alte Testament, die Heiligen Schriften der Juden. Im Buch Daniel (7,13) ist die Rede vom ‚Sohn eines Menschen'. Daniel sah in einer Vision eine menschliche Gestalt, die mit den Wolken zu Gott gelangt und die Vollmacht empfängt, über die Völker zu herrschen. Jesus braucht diesen Ausdruck ‚Menschensohn' oft, um sich selbst zu bezeichnen. Offensichtlich will er sein Wirken ins Licht dieser Endzeitprophetie rücken. Umso erstaunlicher ist der Satz: "Wer unter euch der Erste sein will, sei euer Knecht - so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele" (Matthäus 20,28).

Vielschichtige Persönlichkeit

In Jesus verbinden sich Oben und Unten, Herrschen und Dienen in einzigartiger Weise. Jeder Evangelist spürt den Schichten von Jesu Persönlichkeit anders nach: Matthäus porträtiert ihn als den Lehrer des neuen Bundes. Er vollendet, was Mose mit den Israeliten begann, und legt mit der Bergpredigt den guten Willen Gottes für seine Menschen endgültig offen. Markus folgt dem Wanderprediger von der Strasse ins Haus, vom See auf den Berg, vom Dorf in die Hauptstadt Jerusalem, wo sein spiritueller Herrschaftsanspruch abgelehnt wird. Jesus lässt sich ans Kreuz schlagen - doch Gott weckt ihn von den Toten auf, was seine Anhänger, die meinen, er sei gescheitert, völlig durcheinander bringt.

Nahe bei den Leuten

Bei Lukas findet sich das alles auch. Zugleich schildert er Jesus als liebevollen Menschen, als Mann, der ganz unkonventionell Frauen an sich heranlässt, als Beter und Heiler. Während Matthäus, Markus und Lukas den Leser mitnehmen auf die Wanderungen von Jesus, konzentriert sich Johannes auf Wundertaten und Streitgespräche in Jerusalem, wo die geistlichen Autoritäten der Juden sitzen. Erkennen sie ihn als den von Gott gesandten Retter des Volks an?

Der Friedenskönig - abgelehnt

Angesichts der Verschiedenheit der Evangelien stechen jene Begebenheiten heraus, welche alle vier Evangelisten erzählen: Jesus zieht vor dem Passafest in Jerusalem so ein, dass alle ihn als den Friedenskönig erkennen müssen, den der Prophet Sacharja verheissen hat. Jesus fordert im Tempel einen wahrhaftigen Gottesdienst und wird von den machtbewussten Autoritäten der Juden der grausamen römischen Besatzungsmacht ausgeliefert. Den Foltertod erleidet er unschuldig. Mit der Auferstehung am dritten Tag nach der Kreuzigung beginnt das neue Wirken von Gottes Geist unter den Menschen.

Auch bei diesem Geschehen - für Christen das zentrale Drama der Weltgeschichte - weichen die vier Schilderungen in manchen Detail voneinander ab. Eine allein hätte die Facetten nicht einfangen können. Im vierstimmigen Bericht erahnen wir - bald 2000 Jahre später -, was damals abging. Ergründen lässt sich Jesus nicht, aber gerade deswegen sind die vier Evangelien die lohnendste Entdeckungsreise in der Welt der Religionen.


Autor: Peter Schmid
Quelle: Jesus.ch

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