Jesus und seine Familie
Familie ist toll – und spannungsvoll.
In der Familie des Bauhandwerkers Josef gehört das Passafest zu den Höhepunkten des Jahres. Die Arbeit ruht zwei Wochen lang. Josef und Maria nehmen wenn möglich Kinder mit auf die mehrtägige Reise nach Jerusalem. Jesus, der Älteste, ist schon deswegen dabei, weil er mit zwölf Jahren in Kürze zu den erwachsenen Gliedern der Synagoge gehören wird.1
Die Festwoche endet; die Familie nimmt mit tausend andern den Rückweg unter die Füsse. Im grossen Zug muss Jesus auch sein, denken Maria und Josef, irgendwo bei Verwandten oder Freunden, von denen er sich noch nicht trennen will. Nach Stunden wächst ihre Besorgnis; sie fragen, und niemand hat ihn gesehen. Ist ihm etwas zugestossen? Schliesslich kehren sie um. Aber warum sollte er in Jerusalem bleiben, wo er doch nach Nazareth gehört? Josef braucht ihn im Handwerksbetrieb – jetzt, da die Familie so gewachsen ist!
Wo ist unser Jesus?
An allen Ecken der Stadt fragen sie nach ihrem Buben. Am dritten Tag finden sie ihn – in einer Halle des Tempels! Er sitzt in einem Kreis bärtiger Theologen und diskutiert mit ihnen über die Heiligen Schriften. „Jesus, warum tust du uns das an!“ ruft Maria aus. „Dein Vater und ich haben das Schlimmste befürchtet, als wir dich suchten.“ Die Gelehrten ziehen die Brauen hoch: Der frühreife Knabe ist bei ihnen am rechten Ort; sein Verständnis der Schriften hat sie alle tief beeindruckt. Jesus entgegnet mit einer Frage: „Warum habt ihr mich denn überall gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?!“
Folgsam
Die Eltern sehen sich an. Erst später erfasst Maria den tieferen Sinn dieser Worte: Ihre erste Schwangerschaft war ein Wunder, gewirkt von Gott selbst – Jesus ist daran, seinen Vater im Himmel kennen zu lernen! Doch er ist auch jetzt der gehorsame älteste Sohn, als den sie ihn kennen und lieben. Er kommt zurück nach Nazareth, fügt sich ein in die Familie,2 entlastet die Mutter im Haushalt, hilft im Betrieb mit.3
Rund zwanzig Jahre4 später – vom fernen Rom herrscht der Kaiser Tiberius über den Mittelmeerraum – ist Jesus nicht mehr zu Hause. Die vier Brüder führen Josefs Geschäfte weiter;5 Jesus geht seinen eigenen Weg. Wie viele andere Juden wandert er an den Unterlauf des Jordanflusses, wo ein Mann die Leute untertaucht, die Vergebung ihrer Sünden suchen.6 Neuerdings, erzählt man sich in Nazareth, hat er einen Kreis von Freunden gesammelt, die ihn als ihren Rabbi, als ihren religiösen Lehrer ansehen.7 Was geht da ab?
Fest mit Panne
An einer Hochzeit in Kana, einige Wegstunden von Nazareth, sind Jesus und sein Trupp auch eingeladen – Maria kann sie unter die Lupe nehmen.8 Doch das Fest entwickelt sich nicht nach Wunsch; der Wein geht aus – peinlich. Maria flüstert es Jesus zu, da er doch immer einen Ausweg weiss. Er aber macht deutlich, dass ihr Anliegen und das seine nicht dasselbe sein müssen, und sagt, der Moment zu handeln sei für ihn noch nicht gekommen. Maria lässt sich nicht beirren; sie befiehlt den Dienern, die Weisungen von Jesus zu befolgen. Doch Wein ist weit und breit nicht – was nun? Jesus weist auf grosse Steinkrüge hin. Die Diener sollen sie mit Wasser füllen und dem fürs Mahl Verantwortlichen bringen. Dieser kostet die Flüssigkeit – es ist Wein! – und versteht nicht, dass diese bessere Qualität erst jetzt kredenzt wird.
Fasziniert
Feuchtfröhlich festet die Gesellschaft in den Abend hinein. Die Freunde von Jesus sind begeistert: Wenn er das vollbringt, was ist von ihm noch zu erwarten? Wohl möglich, dass das Wunder ihn und seine Mutter neu verbunden hat. Auch die Brüder von Jesus sind fasziniert; sie kommen mit ihr nach Kapernaum, wo Jesus und seine Freunde sich eine Zeitlang aufhalten.9 Aber seine radikalen Predigten – Gott wie einen Vater lieben, auf den Durchbruch seiner Herrschaft warten, die Vorschriften des Gesetzes besser befolgen als die frommen Pharisäer10 – und Jesu Kontakte zu zweifelhaften Leuten11 geben ihnen zu denken. Muss es sein, dass er immer wieder aneckt? Sie kehren nach Nazareth zurück.
Im falschen Film
An einem Wochenende besucht Jesus den Ort, in dem ihn alle von klein auf kennen. Am Schabbat ist die Synagoge bis auf den letzten Platz gefüllt.12 Er soll aus der Schriftrolle vorlesen und darüber sprechen. Dabei kommt es zum Eklat: Als Jesus erklärt, dass Gott ihn gesandt und mit Vollmacht ausgestattet hat, Menschen zu befreien, geht ein Murmeln durch den Raum. Ungläubig schütteln die Leute die Köpfe: „Woher hat er das? Wie kann er so weise daherreden und derartige Wunder tun? Ist er nicht der Handwerker, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Juda und Simon? Auch seine Schwestern leben hier unter uns!“
Jesus: „Denn wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, ist für mich ein Bruder, eine Schwester, eine Mutter.“
Am Abgrund
Jesus kommentiert dies spitz: Kein Prophet könne in seiner Heimat auf Gehör rechnen. Und setzt noch einen drauf: „Der Gottesmann Elia half während der Hungersnot ausgerechnet einer nichtjüdischen Witwe zu überleben.“ Die Ablehnung der Botschaft steigert sich zum wütenden Protest: Was will der hier?! Einige Hitzköpfe packen Jesus und zerren ihn aus der Synagoge, schleppen ihn durch die Gassen, um ihn von einem Felsen zu stossen. Aber da ist eine stärkere Kraft: Sie müssen Jesus loslassen; er geht mitten durch sie hinweg.
Wer sind meine Brüder?
Zwar trifft Maria Jesus immer wieder, aber alle Ansprüche seiner Familie an ihn weist er ab. So auch an einem Tag, da Mutter und Brüder ihn aufsuchen. Er ist in einem Haus eben wieder von Dutzenden Menschen umlagert; sie können nicht zu ihm vorstossen! Doch nun, so lassen sie ihm ausrichten, soll er sich Zeit für sie nehmen! Jesus stellt darauf eine erstaunliche Doppelfrage: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“ Und beantwortet sie gleich selbst, indem mit seiner Hand einen Bogen über seine Anhänger beschreibt: „Seht, meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, ist für mich ein Bruder, eine Schwester, eine Mutter.“13
Eine neue Gemeinschaft
Jesus verweigert sich der Forderung seiner Brüder, mit ihnen zum Fest nach Jerusalem zu ziehen und dort mit Wundern aufzutrumpfen, das Volk hinter sich zu scharen. Nein, das ist nicht sein Auftrag. Er geht später unauffällig zum Fest und tritt im Tempel auch auf – aber nicht so, wie seine Brüder es wollen.14 An die Stelle der Familie, der er entstammt, ist eine neue Gemeinschaft getreten. Sie besteht aus den Menschen, die auf die von ihm verkündigte umfassende Herrschaft Gottes warten und die von seiner unerschöpflichen Güte leben wollen. Maria folgt Jesus nach Jerusalem und erlebt mit, wie er verurteilt und als „König der Juden“ am Kreuz hingerichtet wird.15 Nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt schliesst sich mindestens einer seiner Brüder, Jakobus, der neuen Gemeinschaft an.16
1 Die Bibel, Lukas, Kapitel 2, Verse 41-50
2 Lukas 2,51
3 Die Leute in Nazareth kennen ihn als Zimmermann, Markus 6,3
4 Lukas 3,23
5 Weil Josef in keinem Evangelium mehr erwähnt wird, kann vermutet werden, dass er 30 Jahre nach der Geburt von Jesus nicht mehr lebt.
6 Lukas 3,21; Johannes 1,29
7 Johannes 1,35-51
8 Johannes 2,1-11
9 Johannes 2,12
10 Matthäus 5,3-48
11 Matthäus 9,9-12
12 Drei Evangelisten berichten davon, mit verschiedenen Akzenten: Matthäus 13,53-58; Markus 6,1-6; Lukas 4,16-30.
13 Matthäus 12,50
14 Johannes 7,3-10
15 Johannes schildert, wie Jesus noch im Todeskampf für seine Mutter sorgt, 19,25-27.
16 Nach seiner Auferstehung erscheint Jesus dem Jakobus, 1. Korinther 15,7. Er leitet später die christliche Gemeinde in Jerusalem, Apostelgeschichte 12,17; Galater 1,19; 2,9.
Autor: Peter Schmid
Quelle: Jesus.ch