Medienkritik im Livenet-Talk

Ist das Misstrauen gegenüber den Medien berechtigt?

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Die Talkgäste Annelies Wilder-Smith und Vinzenz Wyss (Bild: Livenet)
Nach rund zwei Jahren COVID-19-Pandemie zieht Livenet in diesen Tagen eine Bilanz aus verschiedenen Perspektiven. Zum Auftakt steht die Rolle der Medien im Fokus. Zu Gast im Livenet-Talk war dazu unter anderem Medienwissenschaftler Vinzenz Wyss.

Der Professor für Journalistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ist bekannt für pointierte Aussagen, nicht zuletzt auch zu Fragen rund um Kirche und Gesellschaft. So trat Wyss u.a. 2018 am Medientag der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA als Referent auf (Livenet berichtete). Auch am Forum «Kommunikative Theologie» am tsc Chrischona 2020 war er mit dabei und sprach darüber, wie heutige Menschen mit der christlichen Botschaft erreicht werden können (Livenet berichtete). Diesmal war der gläubige Katholik zusammen mit Dr. Annelies Wilder-Smith, Professorin für neu auftretende Infektionskrankheiten, zu Gast im Livenet-Talk.

Bundesrat kommuniziert «relativ gut»

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Professor Vinzenz Wyss (Bild: zhaw.ch)
«Es ist eine wahnsinnig schwierige Aufgabe, die eine Regierung in einer Pandemie zu bewältigen hat», hält Vinzenz Wyss fest. In Anbetracht dieser immensen Herausforderung, bewertet er die Kommunikation des Bundesrats als «relativ gut».

Dieser Aussage stimmt Annelies Wilder-Smith zu. «In den letzten zwei Jahren gab es eine sehr sachliche Diskussion.» Natürlich seien Fehler gemacht worden, auch in der Kommunikation. «Insgesamt sind wir als Schweizer aber sehr gut durch diese Zeit geführt worden», bilanzieren die beiden einhellig. Laut Wyss ist wichtig, auch zu kommunizieren, was man nicht weiss. Zuweilen habe der Bundesrat mehr Klarheit schaffen wollen, als wirklich möglich war. An diesem Punkt erwähnt Wyss das Beispiel der Schutzmaske, welche von den Schweizer Behörden anfänglich als wenig nützlich bezeichnet wurde. «Viele halten sich heute noch darüber auf, dass damals falsch kommuniziert wurde. Wir müssen aber verstehen, dass Wissen eine Halbwertszeit hat und neues Wissen, auch in der Wissenschaft, immer nur den 'neusten Stand des Irrtums' darstellt.» Trotzdem hält der Medienwissenschaftler dem Bundesrat zugute, dass er immer wieder betonte, was noch nicht bekannt war.

Umgang mit Wissenslücken ist schwierig

Wilder-Smith führt obigen Gedanken weiter: «Wenn es Wissenslücken gibt, versuchen manche Menschen, diese mit eigenen Gedanken, Interpretationen und manchmal mit Verschwörungstheorien zu füllen.» Das sei leider oft passiert, weil Menschen das hören, was sie hören wollen. «Das ist die Definition von Populismus. Man wählt sich Leute aus, die das sagen, was man hören will.» Prof. Wyss ergänzt zu diesem Thema: «Wir hatten eine Situation mit widersprüchlichem Wissen und Nichtwissen und dann neigen Menschen dazu, diese Wissenslücken mit irgendetwas Nachvollziehbarem schliessen zu wollen.»

Das Problem sei, so die Epidemiologin Wilder-Smith, dass die Mehrheit der Menschen gewisse epidemiologische Konzepte nicht verstehe. Es brauche Kreativität und eine Begabung, die «reproduction number (r)» oder «exponentielles Wachstum» zu erklären. «Wenn ich höre, wie Menschen sagen, es seien doch nur 10'000 gestorben und dafür hätten wir als Gesellschaft leiden müssen, verstehen sie nicht, dass es ohne Massnahmen allein in der Schweiz 60'000 oder 100'000 Tote gegeben hätte.» Dies verständlich zu kommunizieren, sei eine Begabung, die man als Wissenschaftler häufig nicht habe – und als Politiker vielleicht auch nicht.

Wenn Menschen «Covidioten» genannt werden

In den vergangenen zwei Jahren waren viele kritische Stimmen und Verschwörungstheorien zu hören. «Die Medien haben sich sehr despektierlich damit auseinandergesetzt», hält Professor Wyss fest. «Man kann ja von Theorien halten was man will. Sich über Menschen lustig zu machen, die möglicherweise aus einem Problem heraus einer Verschwörungstheorie aufsitzen, das halte ich journalistisch für falsch.»

Egal, wie schräg sich eine Theorie auch anhört, sollte man doch richtig zuhören. Oft wurde kritisiert, man würde Querdenkern zu viel Aufmerksamkeit schenken. Wyss glaubt, dass es hier nicht darum gehe, wie viel Raum man diesen Ansichten gibt, sondern, dass man mit Respekt hinhört. «Meine Kritik an die Medien ist, dass sie Menschen aus einer despektierlichen Haltung heraus Covidioten nannten und alle in einen Topf geworfen haben.» Bei Demonstrationen finden sich unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Motiven. Für viele Medien waren dies aber einfach alles «Covidioten».

Respekt vor Menschen und Fakten

Medienforscher Wyss berichtet weiter: «Ich beobachte, dass Menschen, die sich von Mainstreammedien nicht abgeholt fühlen, sich von diesen verabschieden.» Sie sagen dann: «Dort werde ich als Covidiot bezeichnet.» Vielleicht ist es eine alleinerziehende Mutter, die sich Sorgen wegen der Impfung ihrer Kinder macht. Wenn diese Frau dann Covidiotin und Verschwörungstheoretikerin genannt wird, ist es verständlich, dass sie sagt: «Das tut mir nicht gut.» Sie geht dann irgendwohin, wo sie verstanden wird und kann so tatsächlich in die Fänge von Verschwörungstheoretikern geraten, welche ja bestrebt sind, solche Leute anzuziehen. Eine sensiblere Kommunikation der Medien hätte das verhindern können.

Wilder-Smith bringt hier eine andere Seite zur Sprache und erzählt, wie Wissenschaftler sich vor extremen Gegnern in Sicherheit bringen mussten und Polizeischutz brauchten. «Heute gibt es Attacken gegen Fakten und gegen die Wissenschaft.» Es sei wichtig, sich an Fakten zu halten. «Eins und eins gibt zwei. Wenn nun jemand sagt, dass eins und eins drei gebe, dann finde ich, dass diese Person nicht das Recht hat, öffentlich Gehör zu finden.»

Mut zur Skepsis

Dr. Annelies Wilder-Smith drückt ihr Bedauern darüber aus, dass Verschwörungstheorien eine grosse Minderheit der Bevölkerung vom Impfen abhalten würden. Über diese Ausführung gibt sich Medienexperte Vinzenz Wyss erstaunt. Schliesslich würden sich Menschen aus unterschiedlichen Gründen gegen die Impfung entscheiden. Als alternative Sichtweise führt Wyss aus, dass Menschen in Österreich, Deutschland und der Schweiz sich vielleicht einfach mehr trauen, skeptisch zu sein.

«Wenn wir in der Schweiz einen Anteil von 20 Prozent der Bevölkerung haben, der impfskeptisch ist, dann ist dies ein sozialer Faktor.» Wyss plädiert für eine andere Sichtweise. «Man kann dann nicht einfach sagen: Jetzt impfen wir durch! Weshalb tun wir, als ob es Impfskeptiker nicht geben dürfe? Es gibt sie doch.»

(Begründetes) Misstrauen gegenüber den Medien

Neulich gerieten Aufnahmen an die Öffentlichkeit, in welchen Marc Walder, CEO der Ringier Gruppe, zugab, seine Redaktoren zur Unterstützung von Regierungen aufgerufen zu haben. «Das ist Wahnsinn», sagt Wyss. «Wie kann ein CEO dies sagen!» Trotzdem dürfe aus dieser Aussage nicht abgeleitet werden, Medien und Politik würden unter einer Decke stecken – das stimme einfach nicht. «Die Medien haben die Aufgabe, die Regierungen kritisch zu beobachten – auch in einer Pandemie.» Und gute Medienarbeit sei für die Vertrauensbildung in einer Pandemie elementar wichtig. Wyss ergänzt, dass Schweizer sich oft nicht trauen, Dinge zu sagen, die einigen nicht passen. Das sei auch in Kirchen so.

Hier können Sie den gesamten Livenet-Talk mit Annelies Wilder-Smith und Vinzenz Wyss ansehen:

Zum Thema:
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Datum: 19.01.2022
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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