Wege (die zwei der Bergpredigt)

Jesus sprach: »Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind's, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind's, die ihn finden! « (Matth. 7,13.14).

Die herrschende Auffassung

Es herrscht fast allgemein die Vorstellung, als bedeute der breite Weg ein offenbar leichtsinniges, lasterhaftes Leben, der schmale dagegen ein Leben in Tugend und ernster Frömmigkeit. Als hiesse auf dem schmalen Weg gehen: kirchlich sein; noch besser: einer ernsten kirchlichen oder ausserkirchlichen Gruppe ange­hören, die ein ganz bestimmtes Programm mit allem Nachdruck als biblisch vertritt.

Der breite Weg wäre dann der Weg der Unkirchlichen oder Entkirchlichten oder der »bloss Kirchli­chen.«

Jesus versteht unter dem breiten Weg eine Art Frömmigkeit

Das ist im ersten Augenblick einleuchtend. Bei näherer Be­trachtung erweist es sich aber, dass die Bergpredigt in ganz an­derer Weise unterscheidet zwischen dem breiten und dem schmalen Weg.

Unter dem breiten Weg kann Jesus nicht den des Lasters oder offenbaren Leichtsinns meinen. Er spricht hier doch von Wegen, die überhaupt als Wege zu Gott angesehen werden können. Die offenbare Bosheit, die nackte Liederlichkeit, der erklärte Atheismus kamen für keinen seiner Hörer als Weg in Betracht: weder für die damaligen Frommen noch auch für die »Zöllner und Sünder«, denn auch diese wussten es genau, dass das völlige Chaos kein Weg zu Gott ist.

Andererseits: Unter dem schmalen Weg kann Jesus nicht die herrschende Moral, die kirchliche Frömmigkeit mit ihren Einrichtungen oder das besonders ernste Programm der Pharisäer meinen. Er sagt: Es sind wenige, die den schmalen Weg überhaupt finden; der Weg der kirchlich Frommen oder der Extra-Frommen (Pharisäer) lag aber für jedermann offen da.

Es waren auch nicht wenige, die den Weg der überlieferten Religion gingen, den Tempel besuchten, ihre Opfer brachten, zur vorgeschriebenen Zeit fasteten, den Zehnten gaben, die kirchlichen Feste feierten, an den Ver­sammlungen der Synagogen teilnahmen. Es waren damals - und sind fast immer - die meisten, die sich in irgendeiner Weise an die überlieferten kirchlichen Sitten und Einrichtungen hal­ten.

Der Weg des Gesetzes scheint eng zu sein und ist es doch gar nicht

Jesus weist hier darauf hin, dass gerade da, wo Menschen mit mehr oder weniger Eifer festhalten an kirchlichen Ordnungen, frommen Bräuchen, guten Grundsätzen, immer noch ein breiter und weiter Raum übrigbleibt für Willkür, Ungehorsam, Un­glauben, Lieblosigkeit und alles Böse.

Der Weg des Gesetzes, der eng zu sein scheint, ist dennoch sehr breit. Das springt sofort in die Augen bei denen, die nur ganz von fern und gelegentlich sich an bestimmte fromme Ordnungen halten. Man kann gelegent­lich zur Predigt kommen, die Feste der Kirche feiern, bei wich­tigen Gelegenheiten im Leben die Weihe des göttlichen Worts begehren; man kann im Rahmen dessen, was allgemein ange­nommen ist, wohltätig sein und in allem übrigen doch leben, wie es einem selbst gefällt.

Aber Jesus spricht hier nicht bloss von solchen Menschen. Er meint vor allem die ernstlich Frommen, die ausgesprochen »Gläubigen«, alle, die grundsätzlich und konsequent ihr Leben »biblisch« führten. Er zeigt auch ihnen, dass ihr Weg, so schmal er zu sein scheint, ein sehr breiter ist. Auch sie sind in dem, worauf es ankommt, ganz eigenmächtig und rebellisch.

Wie der fromme Eifer auf der anderen Seite der Willkür und Selbstsucht Vorschub leistet

Sie halten lange Gebete und geben gebetsweise Gott die höchste Ehre - und sind doch im Leben ganz und gar verliebt in ihre eigene Ehre. Sie bringen dem Tempel grosse Geldopfer und las­sen ihre Eltern darben. Sie verzehnten die letzte Dillpflanze; manche geben sogar einen zweiten Zehnten extra für die Ar­men. Aber über die übrigen neun oder acht Zehntel verfügen sie selbstverständlich nach freiem Belieben.

Sie sind als Gemein­deglieder wohltätig, können aber als Geschäftsleute kaltherzig über zerbrochene Existenzen und beraubte Witwen wegschreiten. So sagte Jesus damals.

Man könnte fortsetzen: Sie besuchen regelmässig alle Versammlungen und sind zu Hause ein Kreuz für die ihren. Sie sind bis in die Fingerspitzen korrekt im Festhalten an den kirchlichen Traditionen und sind dennoch Geizhälse, Leuteaussauger, hartherzige Prinzipalinnen, unor­dentliche Hausfrauen. Sie halten täglich ihre Morgenandacht und gehen im nächsten Augenblick blind und stumpfsinnig an der schreienden Not eines Bruders vorüber.

Sie sind predigt­weise tief ergriffen von der Güte des himmlischen Vaters, der für alle Geschöpfe sorgt, und sorgen im Leben dennoch schlimmer als die ärgsten Heiden.

Es ist ein Leben, das nicht gänzlich ausser Rand und Band ist. Es sind gewisse Grenzen da; man läuft nicht geradezu wie in der Steppe nach allen beliebigen Richtun­gen; man hält sich schon an eine Strasse, aber es ist doch zuletzt eine recht breite und bequeme Strasse.

Es ist Raum genug da für die Betätigung des lieben Ich, für allerlei bürgerliche und kirch­liche Selbstzufriedenheit. Es ist ein Kompromiss zwischen Glauben und Atheismus, zwischen Gottesdienst und Mam­monsdienst, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Selbstver­leugnung und Selbstsucht.

Gesetze, Regeln sind immer dehnbar.

  • Man kann sie so oder so anwenden.
  • Man kann wählen zwischen der einen oder der anderen Möglichkeit, die in ihnen enthalten ist.
  • Man kann, wenn man will, auch aus den Worten Jesu Kapital für sich schlagen.
  • Man kann das Wort von dem Nicht-Widerstehen dem Bösen zum Deckmantel seiner Feigheit ma­chen.
  • Man kann das Wort: »Strafe deinen Bruder« vorschützen, wo man einen ohnehin zerbrochenen Menschen hartherzig ab­kanzelt.
  • Man kann alle Worte von der Freiheit eines Christen­menschen auf die schändlichste Weise missbrauchen.
  • Man kann sich darauf zurückziehen, dass es »grundsätzlich« erlaubt ist, gesellig zu sein und allerlei zu geniessen, und unter seinem Geniessen die grössten Aufgaben versäumen und verträumen.

Der schmalste Weg ist der der direkten Führung von oben

Die besten Gesetze, die schönsten Einrichtungen können die Willkür nicht steuern, wenn kein Herr da ist, der regiert und ausdrücklich befiehlt und jedem seine ganz bestimmten Aufga­ben gibt.

Klarheit, Bestimmtheit, Geradheit kommen in ein Menschenleben erst, wenn es unmittelbar unter göttlicher Lei­tung steht, wenn Christus selbst es in seine Hand nimmt, wenn er der Richtunggebende, Ordnende, Befehlende ist.

Die Frage lautet dann nicht: Was ist grundsätzlich erlaubt? Was ist in diesem Programm, in jener Anstalt an Leistungen vorgesehen? - sondern: Was ist jetzt mein Dienst? Welche Aufgabe wird mir eben zugewiesen?

Der junge Bodelschwingh hat prinzipiell das Recht, in seinen Studienferien nach Hause zu gehen, und was für Möglichkeiten bietet das nicht alles? Aber er hat den Auf­trag, den Arbeitslosen und Handwerksburschen nahezutreten, - darum verbringt er den Sommer auf Landstrassen und in Knei­pen.

Mathilda Wrede hat »grundsätzlich« das volle Recht, ihr reiches Erbe anzutreten und sich in der grossen Gesellschaft zu bewegen. Aber sie hat den Auftrag an die Gefangenen; darum setzt sie sich auch auf das Einkommen eines Gefangenen. Das ist nicht eine Extraleistung, das ist einfacher Gehorsam.

Die Haltung des schmalen Weges ist Mobilsein und Gehorchen

Man kann den breiten Weg vergleichen dem Leben des Staats­bürgers zu Friedenszeiten. Da obliegen dem einzelnen ganz be­stimmte, im Gesetz vorgeschriebene Leistungen und Steuern; im übrigen ist er sein eigener Herr. Tritt aber ein Ernstfall ein für das Land, gibt es grosse Mobilisation, so hat sich mit einem Schlag alles geändert.

Jetzt kann der Mensch den Staat nicht mehr mit so und so vielen Leistungen abfinden; er muss sich mit seiner ganzen Person zur Verfügung stellen. Er lässt, wenn es gefordert wird, Beruf und Besitz und Familie hinter sich. Und ist er seinem Regiment eingereiht, so bekommt er von Stunde zu Stunde Befehle - etwas anderes gibt es für ihn nicht mehr.

So ist der schmale Weg. Die enge Pforte ist der grosse Ernstfall im Menschenleben, wo es von oben her über ihn kommt, dass er jetzt am längsten sein eigener Herr gewesen ist; wo mit einem Schlag alle bürgerlichen und kirchlichen Sicherheiten dahin sind, weil man mobilisiert ist; wo man sich zur Verfügung zu stellen hat ohne allen Rest und Vorbehalt.

Durch die enge Pforte gehen heisst: ein für allemal die Bestimmung über sich aufgeben, auf alle Sicherungen einer gesetzlichen Ordnung verzichten und statt dessen das verwegene und abenteuerliche Leben eines Dieners Christi beginnen.

Auf dem schmalen Weg gibt es keine Vielgeschäftigkeit

Auf dem schmalen Weg gehen heisst: ganz unbedingt und aus­nahmslos unter der Leitung Christi stehen. Nicht mehr zerflie­ssen in frommer Vielgeschäftigkeit, sondern mit gerafftem Wil­len jedesmal eines tun. Nicht hierhin und dorthin laufen, wo man selbst meint, dass etwas Wichtiges zu tun sei, sondern stillstehen vor seinem Dienstherrn und sich seine Weisungen holen. Auch nicht einen Schritt tun, ohne gewiss zu sein, dass er es so will.

Weiss einer das, dann bricht er auch unaufhaltsam durch alle Hindernisse, damit der hohe Wille seines Auftragge­bers geschieht.


Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

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