David Kadel

«Psychische Folgen der Pandemie gleichen einem Atomangriff»

Neun Krimis an einem Tag sendete das ZDF – David Kadel platzte darauf der Kragen. Im Interview erklärt er, was er sich stattdessen von öffentlich-rechtlichen Sendern wünscht.

Auf Facebook haben Sie neulich mit der Programmplanung des ZDF abgerechnet. Insbesondere die vielen Krimis stören Sie. Warum?
David Kadel: Ich habe nichts gegen Krimis – aber in meinem offenen Brief an den ZDF-Intendanten Himmler geht es um die fehlende Ausgewogenheit. Am Tag meines Schreibens, am 11. Oktober, liefen neun Krimis im ZDF! In diesen heftigen Krisenzeiten, die wir gerade erleben, brauchen wir nicht neun Morde, sondern ermutigende Formate. Das ZDF hatte ja in seinem Gründungsvertrag einen Bildungsauftrag unterschrieben und sich damit verpflichtet, die gewaltige Wirkung des Massenmediums Fernsehen nicht zu unterschätzen oder zu missbrauchen, sondern zum «Wohl der Gesellschaft» einzusetzen. Apropos glückliche Gesellschaft: Die grösste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg erleben wir in Deutschland seit Beginn der Pandemie, gefolgt von Ukraine-Krieg und der aktuellen Energie-Krise. Millionen von Menschen wachen in unserem Land morgens mit Sorgen auf und gehen mit ihren Ängsten abends schlafen. In Ängsten gefangen zu sein, ist kein Spass. Alleine die psychischen Folgen der Pandemie gleichen einem Atomangriff auf unsere Seelen. Soziologen sprechen von Massen-Depression unserer Gesellschaft. Jugendliche, die in ihrer Verzweiflung heftige psychische Erkrankungen erleiden, müssen bis zu neun Monate warten, um einen Termin zu bekommen in der Jugendpsychiatrie. Und wie lautet die Antwort des ZDF mit seinen Tausenden von Mitarbeitern? Neun Morde servieren Sie uns in diversen Krimis an nur einem Tag! Menschen werden erwürgt, erstochen, erschossen, brutal erstickt, vergiftet, vergewaltigt, zu Tode gefoltert.

Was wollen Sie stattdessen im Fernsehen sehen?
Spätestens als sich die Corona-Krise zuspitzte, hätte das ZDF eine grosse Möglichkeit gehabt – und hat sie auch noch heute –, Millionen Menschen Mut zu machen. Zwischen all den Sondersendungen, die uns fast täglich Angst machen, könnten sie ganz bewusst Mutmach-Sendungen ausstrahlen, die uns helfen, besser mit dem ganzen Wahnsinn umzugehen. Man hätte Eckart von Hirschhausen, Samuel Koch, Johannes Warth, Rainer Wälde und anderen Ermutigern ein Mutmach-Format geben können, in dem sie uns Mut machen und auch die schönen Seiten des Lebens zeigen, um etwas Lebensfreude in unsere krisengeschundenen Seelen zu bringen. 

Fernsehmacher der Öffentlich-Rechtlichen geben immer wieder an, dass die Zuschauer nun mal Krimis sehen wollen – das würden schon die Einschaltquoten zeigen. Haben Sie dafür Verständnis?
Klar habe ich Verständnis dafür, ich mag gut gemachte Krimis ja auch – aber diese Masslosigkeit mit neun Krimis am Tag zeigt uns doch, wie wenig denen auf dem Lerchenberg noch einfällt, um Menschen gut zu unterhalten – ich möchte beinahe sagen: Ihnen fehlt jegliche Empathie, was Menschen in Krisenzeiten wirklich brauchen. Wir wollen inspiriert werden durch Geschichten, die uns berühren, um hier und da eine gute Message mitzunehmen in unseren fordernden Alltag. Zumindest ist das meine Vorstellung von gutem Fernsehen. Klar braucht es hier und da einen stupiden Actionfilm und Popcorn-Comedy, aber mit meiner Kritik möchte ich ja bewusst anregen, darüber nachzudenken, wie man Menschen in einer «Massendepression», wie Soziologen sagen, wieder aufrichten und stärken kann.

Haben Sie konkrete Formate im Auge, die die Öffentlich-Rechtlichen bringen sollten?
Das ZDF könnte in diversen Formaten sicher jede Menge mutmachender Geschichten erzählen – wenn sie nur wollten. Denn es gibt sie an jeder Ecke, Geschichten von Menschen, die füreinander da sind, die kreativ werden, um anderen zu helfen, die Initiativen starten, um Menschen zu zeigen «Ihr seid uns nicht egal». Michael Stahl, Andi Weiss, Deborah Rosenkranz, Rainer Zilly, Stefan Lepp, Tim Niedernolte, Torsten Hebel, Daniel Höly, Josef Müller: Dutzende meiner Freunde haben Mutmach-Projekte geschaffen, über die man erzählen könnte.

Ich selber darf seit zwei Jahren das Mutmach-Projekt «Wie man Riesen bekämpft» leiten, in dem wir krebskranke Kinder, aber auch Jugendliche in Jugendpsychiatrien besuchen. Das machen wir zusammen mit Fussballprofis in ganz Deutschland und es fliessen bei all den Mutmach-Events, die wir auf den Kinderkrebsstationen erleben, immer wieder Tränen der Freude, weil uns Menschen sagen: «Danke, dass Sie das tun, das hilft uns in dieser schweren Zeit den Glauben an das Gute nicht zu verlieren.» Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum die Programmgestalter immer noch an dem uralten Mist festhalten: «Nur schlechte Nachrichten und Morde lassen sich verkaufen.» So zu denken und zu senden, ist ewig vorgestrig, zynisch und menschenverachtend. Sorry, dass ich das so deutlich sage, aber es macht mich wirklich wütend zu sehen, wie gleichgültig hochbezahlte und hochgebildete Redakteure sein können. 

Finden Sie, dass die Privaten es besser machen?
Ich bin echt kein Freund der Privaten, aber von RTL II und Co. erwarte ich auch nichts, da sie ja keinen Bildungsauftrag unterschrieben haben, sondern lediglich Geld machen wollen durch Unterhaltung, was auch völlig legitim ist. Aber von ARD und ZDF dürfen wir zurecht – auch weil wir die Gebühren bezahlen – einen gewissen Anspruch erwarten und vor allem ein Gefühl für das, was Menschen guttun könnte. All die tausenden Sondersendungen über Corona, über zerbombte Kinder in der Ukraine, über die unbezahlbare Energie im Winter, spüren die bei ARD/ZDF nicht, dass das etwas mit uns macht? Ich kenne extrem viele Leute, die mir erzählen, dass sie diese Sendungen bewusst nicht mehr schauen, weil sie gemerkt haben, wie es mehr und mehr Ängste und Depressionen auslöst. Ist ja auch klar, wir sind keine Roboter, sondern Menschen mit Mitgefühl. Und in Mainz denken die wirklich, dass man verunsicherte, verängstigte Menschen mit schlecht gemachten Krimis zuschüttet? Das ist deren Antwort auf die grösste Krise, die unsere Generation je erlebt hat?!

Sicher hat das ZDF auch viele gute Sendungen im Programm, und jeder kann ja heute sein eigenes Programm zusammen stellen, aber darum geht es mir in meiner Kritik nicht. Mir geht es ganz deutlich um Verantwortung und Empathie gegenüber von Millionen Menschen, die abends müde die Glotze anschalten und – jetzt kommt ein Konjunktiv – die man mit einem Mutmach-Programm stärken und ermutigen könnte, für all ihre Herausforderungen und Nöte. Das ist eine Riesenchance für ARD/ZDF, die sie aber seit Beginn der Pandemie leider nicht nutzen – bisher –, die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich habe Dr. Himmler mein Mutmach-Buch «Wie man Riesen bekämpft» geschickt, mit 35 wahren Mutmach-Geschichten, und ihm Mut gewünscht, das Programm einmal zu hinterfragen. Mal sehen, wie er reagiert. Für einige mag meine Kritik anstössig sein, aber ich liebe das Zitat von Johannes Rau: «Nur wer anstössig ist, kann auch etwas anstossen!»

Krimis sind nicht zwingend negativ – je nachdem, wie die Geschichte aufgezogen ist, kann ein Krimi sogar Mut machen. Sehen Sie das anders?
Ich bin ein echter Cineast, habe gefühlt 1'000 Filme in meinem Leben gesehen, aber an einen ermutigenden Krimi kann ich mich wirklich nicht erinnern. Vielleicht dann, wenn die Kommissare, zum Beispiel Liefers und Prahl im Münster-Tatort, sehr empathisch auftreten und zeigen, dass man Menschen in schwierigen Situationen auch Mut machen kann, anstatt nur kalt seinen Job auszuüben. Aber ich denke, das ist eher die Ausnahme. Der Trend geht eher in die Richtung, dass man Wert darauf legt, dass die Morde noch perfider oder grausamer sein müssen, damit es beim Zuschauer – der in seinem TV-Leben schon viel gesehen hat – überhaupt noch einen Kick auslöst.

Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin

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Datum: 01.11.2022
Autor: Nicolai Franz
Quelle: PRO Medienmagazin

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