Psalmen angesichts des Todes
Was geschah mit messianischen Juden während des Holocausts?
Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gab es eine bedeutende Bewegung messianischer Juden. Auch ihnen erging es in diesen dunklen Zeiten nicht besser. Viele kamen während des Holocausts um.
Mitch Glaser, Präsident von «Chosen People Ministries», hat sich eingehend mit der Geschichte der messianischen Juden befasst. «Besonders in Osteuropa gab es vor der Zeit des Holocausts ein enormes Wachstum, viele tausend jüdische Menschen kamen zum Glauben an Jesus», so Glaser. Polen sei einer der zentralen Orte für diese Bewegung gewesen.
«Polen, der grösste jüdische Friedhof»
Da Polen die grösste jüdische Bevölkerung Europas beheimatete, beschlossen die Nazis, innerhalb Warschaus ein ummauertes Gebiet zu errichten, um die polnischen Juden einzuschliessen. So wurde das Warschauer Ghetto das grösste Nazi-Ghetto des Zweiten Weltkriegs. Auf einer Fläche von 1,3 Quadratkilometern waren 460'000 Juden inhaftiert. Vom Ghetto aus wurden die Juden in die Konzentrationslager und Massentötungszentren der Nazis deportiert. «Im jüdischen Leben bezeichnen wir das Land Polen als den grössten jüdischen Friedhof, den es gibt. In gewissem Sinne stimmt das auch, denn in Polen lebten damals über drei Millionen Juden.» Es habe keine Rolle gespielt, ob man als jüdischer Mensch Sozialist, Katholik oder Protestant war, so Glaser weiter. «Kein Jude war von den Schrecken des Ghettos und der bevorstehenden Todesfahrt ausgenommen.»
Zwei Kirchen im Ghetto
Mitch Glaser ist überzeugt, dass viele Menschen in jener Zeit das Evangelium hörten, sogar im Ghetto. «Es gab auch Gottesdienste im Ghetto, bis dieses 1943 zerstört wurde.» Laut dem Historiker hatten die Katholiken zwei Kirchen im Ghetto: St. Mary's und All Saints. Dann gab es die Protestanten, sie gehörten wohl zur polnischen, reformierten Kirche. «Ich habe einige Zeit mit einem Kirchenhistoriker der polnischen reformierten Kirche verbracht, die im Ghetto ansässig ist. In dieser Kirche gab es eine Menge jüdischer Gläubiger.»
«Der Hirte stirbt mit seiner Herde»
Es habe unglaubliche Geschichten gegeben, erklärt Glaser. Darunter jene von Isaac Feinstein. «Er arbeitete für die norwegische israelische Mission in Rumänien. Feinstein führte den Juden Richard Wurmbrand, Gründer von 'Voice of the Martyrs', zum christlichen Glauben.» Wurmbrand forderte 1938 Feinstein auf, den rumänischen Ort Lasi zu verlassen, doch dieser erwiderte: «Die Pflicht eines Hirten ist es, zusammen mit seiner Herde zu sterben. Ich weiss, dass sie mich töten werden, aber ich kann meine Brüder nicht im Stich lassen.»
Als das Pogrom ausbrach, wurde Feinstein verhaftet. «Sie brachten ihn ins Polizeipräsidium, wo er zu seinen Mitgefangenen predigte. Laut einem Überlebenden hatte Feinstein mit lauter Stimme gepredigt und an die Herzen der Mitgefangenen appelliert. Sie sollten sich keine Illusionen über eine vermeintliche Befreiung machen, sondern sich vielmehr auf die Begegnung mit ihrem Gott vorbereiten. Seine Worte hinterliessen einen tiefen Eindruck und viele sprachen individuell mit ihm.»
Im Viehwagen eingepfercht
Der Überlebende erinnerte sich weiter: «Am Nachmittag kamen deutsche Soldaten in den Keller und wollten alle Juden niederschiessen. Feinstein stellte sich vor sie, sprach sie auf Deutsch an und flehte für seine Kameraden. Die Beamten gingen wieder hinaus. Alle waren erstaunt, welche Wirkung seine Worte hatten.»
Am Abend wurden die Gefangenen in den Hof der Polizeistation beordert und in den frühen Morgenstunden in langen Reihen zum Bahnhof geführt. «Es wurde gesagt, dass wir in Konzentrationslager gebracht werden sollten. Feinstein war im selben Waggon wie ich. Wir wurden eingepfercht, bis wir nicht mehr atmen und uns nicht mehr bewegen konnten. Wir waren etwa 140 Mann in einem Viehwaggon, in dem normalerweise nur vierzig Mann Platz gehabt hätten.»
Laute Psalmen angesichts des Todes
Der Überlebende erinnert sich weiter. «Dann wurden Türen, Fenster, alle Löcher und Ritzen dicht verschlossen, und von unten wurde Dampf eingeleitet. Es war furchtbar; viele wurden unter dieser Folter wahnsinnig. Es war erschütternd und herzzerreissend. Von Zeit zu Zeit wurde der Güterwagen stundenlang in der brütenden Hitze der Sonne stehen gelassen. Es spielten sich schreckliche Szenen ab. Wer es überlebte wurde täglich von der Erinnerung daran heimgesucht.»
«Vielleicht musste ihr Mann nicht lange leiden», sagte der Überlebende zu Frau Feinstein. «Er fing bald an, mit lauter Stimme Psalmen zu rezitieren und sein Gesicht war wie das eines Engels. Er flehte die anderen Opfer an, ihren Frieden mit Gott zu machen und die Erlösung durch das Blut Christi zu suchen, bevor es zu spät sei. Und einige taten es, bevor es zu spät war.»
Sechs überlebten
Er starb, während ein Rabbiner ebenfalls laut Bibelverse rezitierte. Und Feinstein erklärte den Glauben an Jesus. «Als der Tod durch Ersticken eintrat, ruhte sein Kopf auf der Schulter des Rabbiners. Der Rabbiner selbst starb wenige Augenblicke später; ein mosaischer Jude und ein christlicher Jude wurden Opfer desselben Hasses.»
Wenige überlebten: «In der Nacht wurden an einem kleinen Bahnhof in der Muldau die Waggons geöffnet und die Leichen fielen heraus. Es wurde angenommen, dass alle auf dieser tödlichen Reise erstickt waren. Aber sechs von uns Männern, die nur bewusstlos gewesen waren, wurden beim Herausfallen verletzt. Wir kamen wieder zu Bewusstsein.»
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Autor: Mark Ellis / Daniel Gerber
Quelle: Godreports / gekürzte Übersetzung: Livenet