Von Madagaskar lernen
«Glaube zeigt sich in schweren Zeiten»
Madagaskar wird von Wetterextremen heimgesucht. Vor Ort steht Evelyn Speich mit ihrem Team der leidgeprüften Bevölkerung bei. Zyklone und Dürren stellen grosse Herausforderungen dar. Von den einheimischen Christen lässt sich vieles lernen.
Aufgrund seiner Vielfalt wird Madagaskar als Naturparadies und als «der sechste Kontinent» bezeichnet. Doch Extremwetterereignisse machen dem Volk immer wieder zu schaffen. Im Interview mit Livenet gibt die Schweizerin Evelyn Speich, Madagaskar-Landesverantwortliche des internationalen Hilfswerks «Medair», einen Einblick in die aktuelle Lage.
Evelyn Speich, was genau geschieht in diesen Tagen in
Madagaskar?
Evelyn Speich: Der Zyklon Ana hat diese Woche vor
allem in der Gegend von Analamanga zu schweren Überschwemmungen und Erdrutschen
geführt. Nach offiziellen Angaben sind 41 Menschen in den Wassermassen gestorben,
über 110'000 mussten ihre Häuser verlassen. Mehr als 71'000 wurden in
Notunterkünften untergebracht, die zwischen 100 und mehreren 1'000 Menschen
fassen. Viele Betroffene gehören zu den Ärmsten der Region. Sie mussten ihre
Häuser so plötzlich verlassen, dass sie buchstäblich mit nichts in der Hand in
den Notunterkünften ankamen. Es wird einige Zeit dauern, bis sich die Menschen
von den Folgen des Tropensturms erholen. Derzeit nimmt der Zyklon Batsirai Kurs
auf die Insel. Wir wissen noch nicht, welche Folgen er haben wird und
beobachten die Lage genau. Im Durchschnitt wird Madagaskar von drei bis fünf
Wirbelstürmen pro Jahr getroffen.
Wie reagiert Medair auf die Überschwemmungen?
In Absprache mit den madagassischen Behörden und
anderen humanitären Organisationen unterstützt Medair zwanzig Tage lang drei
Notunterkünfte in der Stadt Antananarivo. Die Hilfe soll 4'000 Menschen
erreichen, das sind etwa 1'000 Haushalte. Gefördert wird das Projekt von der
Europäischen Union. Am 27. Januar haben wir in den drei Notunterkünften die
Bedürfnisse ermittelt. Im Anschluss daran haben wir vier von unserem
Notfallteam zusammen mit 30 Freiwilligen – also zehn pro Unterkunft – entsandt.
Sie leisten Unterstützung in den Bereichen Wasser, Sanitär und Hygiene, stellen
den Menschen Dinge wie Matratzen, Decken und Taschenlampen zur Verfügung und
helfen bei der Essensausteilung. Im Vergleich zu dem Ausmass der Katastrophe
kommt einem das wenig vor, doch für unser Team ist es trotzdem eine
Herausforderung. Es ist das erste Mal, dass wir in der Hauptstadt arbeiten.
Normalerweise haben wir andere Einsatzfelder, dazu kommen die Einschränkungen
durch Covid-19.
Von Europa aus gesehen, ist Madagaskar ein Idyll.
Inwieweit wird dies durch Extremwetterereignisse getrübt?
Die Küstenregionen in Madagaskar leben aufgrund der
biologischen Vielfalt und traumhafter Strände vom Tourismus, werden aber während
der Regenzeit und durch die Gefahr durch Zyklone beeinträchtigt. Im Norden und Westen
der Insel werden Kakao und Vanille angebaut. Wenn Extremwetterereignisse die
Ernten zerstören, verlieren die Menschen ihre Lebensgrundlage. Im Süden von
Madagaskar ist die Lage anders. Dort haben die Menschen seit sechs Jahren mit
andauernder Dürre zu kämpfen. Die Landschaft ist geprägt von Kakteen und
Dornbüschen. Manchmal trocknen auch die in der sengenden Sonne aus. Wenn es
keinen Regen gibt, können die Menschen nichts anbauen und kämpfen ums
Überleben. Ein Zyklon kann aber auch diese Region treffen. Dies wäre umso
schlimmer, da die Häuser der Bevölkerung starkem Wind, Regen und Flut nicht
standhalten können. Die Menschen haben schon sehr lange keinen starken Regen
mehr erlebt. So wird es für sie umso schwerer, die Gefahren reissender Flüsse
und Überschwemmungen einzuschätzen. Bei starken Regenfällen wird auch die
Nothilfe für die hungernde Bevölkerung umso komplizierter.
Was tut Medair im «normalen Alltag» in Madagaskar?
In unserem «normalen Alltag» unterstützen wir von
unserem Länderbüro in Antananarivo aus die Projektteams im Feld. In der Gegend
von Menabe im Südwesten richten wir derzeit mit der Notfallnummer #930 ein
Frühwarnsystem ein, das die Auswirkungen von Extremwetterereignissen begrenzen
soll. Die madagassische Regierung will nun diese Nummer als Hotline nutzen,
über die bei Überschwemmungen Schäden gemeldet werden können. So arbeiten wir
auf Hochtouren, dass dies gut gelingt. Im trockenen Süden von Madagaskar haben
wir ein Ernährungsprogramm. Wir erkennen und behandeln Unterernährung und geben
Tipps zum Stillen und der Ernährung von Kleinkindern. Daneben wollen wir die
Trinkwasserversorgung verbessern. Mit Lastwagen bringen wir abgelegenen
Gemeinschaften Wasser und verbessern die bestehende Wasser-Infrastruktur.
Ausserdem sind wir dabei, eine Rohrleitung zu verlegen, die die Menschen in
einer abgelegenen Hochebene mit Trinkwasser versorgen soll.
Welche Rolle spielt der Glaube im Alltag bei der
Arbeit vor Ort?
Der Glaube an Jesus Christus drängt uns, notleidenden
Menschen zu helfen. Jesus hat uns gelehrt, Gott zu lieben und für
schutzbedürftige Menschen da zu sein. Der Glaube motiviert uns, in allen
Umständen unser Bestes zu geben, um Weisheit zu bitten, wenn wir Entscheidungen
treffen müssen, und mutig zu bleiben, wenn wir gefährlichen Situationen
gegenüberstehen.
Was können wir Christen in Europa von Christen aus
Madagaskar lernen?
Der Grossteil – über
75 Prozent – der Bevölkerung Madagaskars lebt unter der Armutsschwelle. Sie
leben von der Hand in den Mund und können nicht Tage oder Wochen im Voraus
planen. Angesichts der Aussichtslosigkeit ihrer Lage besteht die Gefahr, dass
sie die Hoffnung verlieren. Sie sind so damit beschäftigt, zu überleben, dass
sie nicht wirklich leben. Zur Kirche gehen kostet Geld, das sie nicht haben.
Sie können sich eine Bibel, eine Busfahrkarte oder Ähnliches einfach nicht
leisten. Trotzdem sind in Madagaskar 45 Prozent der Bevölkerung Christen und
die Kirchen sind jeden Sonntag voll. Glaube zeigt sich in schweren Zeiten. Je
härter das Leben, desto stärker der Glaube.
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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet