Gewalt in Kinderheimen
Daniel Zindel auf Sternstunde Religion mit ehemaligem Heimkind
Auch in evangelischen Kinderheimen arbeitet man heute die Vergangenheit auf. Beispielhaft dafür ist die Stiftung «Gott hilft». In den Sternstunden des Fernsehens SRF liess sich der aktuelle Stiftungsleiter, Pfarrer Daniel Zindel, mit den Vorwürfen eines ehemaligen Heiminsassen konfrontieren.
Sergio Devecchi war Heimkind in der Stiftung «Gott hilft» im Tessin. Der heutige Leiter eines Kinderheims erinnert sich noch sehr genau an gute, aber auch an negative Erfahrungen in Pura. Er erinnert sich an Körperstrafen, aber auch an sexuelle Übergriffe eines Mitarbeiters im Stall beim Kinderheim. Doch diese Dinge hätten bei ihm selbst Schuldgefühle erweckt. Er habe gedacht «das musste so sein». Er bemängelt zudem, dass seine Zeit im Kinderheim nicht dokumentiert worden sei. Und er kritisiert die «permanente religiöse Beeinflussung» im Heim.Daniel Zindel bekannte, es sei erschütternd, was damals zum Teil im Namen Gottes geschehen sei. Er versuchte auch nicht, die «instrumentalisierte religiöse Erziehung» zu rechtfertigen. Er habe auch selbst eine Phase durchgemacht, wo er sich von der religiösen Vergangenheit zum Teil emanzipieren musste. Dinge wie Pünktlichkeit, Gehorsam, Sauberkeit seien damals wichtige christliche Werte gewesen. Heute stünden andere Werte, vor allem auch partizipative und emanzipatorische, im Vordergrund.
Aktive Aufarbeitung der Vergangenheit
«Gott hilft» hat inzwischen aktiv diese Vergangenheit aufgearbeitet und Ehemalige eingeladen, über schwierige Erfahrungen in ihrem Heimaufenthalt zu sprechen. Sergio Devecchi hat diese Einladung angenommen und sich gemeldet. Zum Vorwurf, dass seine Vergangenheit im Heim nicht dokumentiert sei, entgegnete Zindel, man habe inzwischen alte Bilder gefunden und begonnen, diese zu digitalisieren, um so auch Erinnerungen der ehemaligen Insassen zu rekonstruieren. Er brachte ein Bild mit, auf dem Devecchi als Kind zu sehen ist.
Laut Daniel Zindel wurden allerdings die Akten über die Kinder, die im vorigen Jahrhundert in einem «Gott hilft»-Heim lebten, vernichtet – aufgrund des Datenschutzgesetzes und in Rücksprache mit dem kantonalen Datenschutzbeauftragten. Das war im Nachhinein gesehen ein Fehler, sagte Daniel Zindel. Devecchi findet die Vernichtung sogar ein Skandal. Laut Zindel gibt es aber auch Ehemalige, denen die Vernichtung der Akten wichtig war. So aber ist die historische Aufarbeitung nicht möglich.
Heils- und Unheilsgeschichte
Die Aufarbeitung wird 100 Jahre Heils- und Unheilsgeschichte dokumentieren. Zindel hofft, dass dabei auch sichtbar wird, was Mitarbeitende für Gotteslohn getan haben und dabei an die Grenzen ihrer Kräfte gegangen sind. Sie seien mit sich über die Grenze gegangen, aber manchmal auch grenzverletzend geworden.Schwierig war für Devecchi, als sein Vormund ihn nach 11 Jahren Aufenthalt aus seiner «Heimat» Pura entrissen habe. Als Kind habe er diese Umgebung als Heimat erlebt, obwohl der Alltag dort streng war, auch bei der Mitarbeit in der Landwirtschaft. Er wurde dann in ein katholisches Internat in Bellinzona verschoben, obwohl der das nicht nachvollziehen konnte – und nachdem er im evangelischen Glauben erzogen worden war.
Er setzte jedoch durch, dass er wieder in ein «Gott hilft»-Kinderheim zurückkonnte, dann aber nach Zizers verlegt wurde. Dass man ihn evangelisch erzog und später einfach in ein katholisches Heim verschob, bleibt für ihn unverständlich.
Devecchi selbst wurde schliesslich Sozialarbeiter und Heimleiter. Sein Ziel war dabei, die von ihm erkannten Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, sondern mit Kindern über Vergangenheit und Zukunft zu reden.
Denn er selbst erfuhr nicht einmal, weshalb er überhaupt ins Heim kam. Ihm habe auch das persönliche Wertgefühl als uneheliches Kind gefehlt. «Ich habe mich geschämt und gemeint, es sei mein eigenes Problem.» Er sprach lange nicht darüber aus Angst, die Vergangenheit als Heimkind könnte ihm beruflich schaden.
Professionalisierung der Heimerziehung
Bei der Stiftung «Gott hilft» fand dann in den 60er Jahren eine Professionalisierung und die Gründung einer Fachschule für Sozialpädagogik statt. Hier wird gelernt, wie man grenzverletzendes Verhalten vermeiden kann. Es gibt hier auch traumapädagogische Fachleute. Der Glaube wird als innere Haltung gelebt aber ohne Anspruch, das Kind zum Glauben zu erziehen.
Die Meinungs- und Glaubensfreiheit werde hoch geachtet. Für Daniel Zindel bleibt aber zentral, dass der Glaube für die Mitarbeitenden eine Ressource bleibt, auch wenn man nicht «zum Glauben hin» erzieht. Man habe auch in den Solidaritätsfonds einbezahlt, aus dem Geld an Härtefälle ausbezahlt wird.
Devecchi wünscht sich eine Art Wahrheits- und Versöhnungskommission analog der Aufarbeitung der Vergangenheit in Südafrika. Sie müsste herausfinden, welche Kinder und weshalb in Heime gesteckt wurden. Auch Zindel findet diese Aufarbeitung wichtig, kann sich aber auch vorstellen, dass der heutige liberale Umgang mit den Kindern aus späterer Sicht kritisiert werden könnte. Entscheidend ist für ihn, im sozialpädagogischen Arbeiten nicht nur eine gute Absicht zu haben, sondern immer auch die Wirkung im Blick zu haben.
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Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet