Sterbehilfe in Deutschland
Palliativmediziner: «Niemand muss verrecken»
Das Bundesverfassungsgericht könnte noch in
diesem Jahr ein Gesetz kippen, das eine organisierte Sterbehilfe
verbietet. Der Palliativmediziner Thomas Sitte warnt vor einer
Liberalisierung. Er ist überzeugt: «So gut wie jedes Leid kann gelindert
werden. Wer für die Suizidbeihilfe wirbt, spielt mit der Angst der
Menschen.»Herr Sitte, im Oktober vor fünf
Jahren nahm sich der ehemalige MDR-Intendant Udo Reiter das Leben. In
seinem Abschiedsbrief begründete er seinen Suizid damit, dass er seine
Kräfte schwinden sehe und nicht als Pflegefall enden wolle. Was dachten
Sie, als Sie von Reiters Tod erfuhren?
Thomas
Sitte: Ich fühlte mich schuldig. Denn drei Wochen vorher sass ich mit
ihm gemeinsam auf einem Podium bei einer Veranstaltung zum Thema
Suizidbeihilfe. Ich war damals wie heute auch gegen die geschäftsmässige
Beihilfe zur Selbsttötung. Reiter sagte, es sei unwürdig, sich zu
erschiessen, nicht zumutbar. Ich entgegnete, dass sich mein Grossvater und
mein Bruder auch erschossen haben und dass ich einen Suizid mit
Medikamenten nicht als würdigere Todesart empfinde. Obwohl ich beides
natürlich nicht gutheisse. Drei Wochen später war Udo Reiter tot. Er
hatte sich erschossen.
Das klingt, als könnten Sie seinen Suizid nachvollziehen.
Es
ist seine Entscheidung gewesen. Sie kam mir damals allerdings ein wenig
vor wie ein Signal in der Diskussion. So nach dem Motto: Schaut her, so
unwürdig muss ich sterben.
Sein
Tod fiel mitten in die Debatte um eine neue Sterbehilferegelung. Ein
Gesetz, das Suizidbeihilfe verbietet, wurde 2015 verabschiedet. Reiter
stand auf der Seite der Gegner, die sagten: «Mein Tod gehört mir!» Was
haben Sie gegen diese Haltung?
Ich
habe nichts gegen den Satz: «Mein Tod gehört mir!», wenn man dieser
Meinung ist. Ich finde aber: Der Staat soll sich nicht zu viel
einmischen. Der Tod gehört jedem Einzelnen. Ich kann niemanden dazu
zwingen, gesund zu leben. Ich kann niemanden dazu zwingen, sich
behandeln zu lassen. Wenn ein Zeuge Jehovas keine Bluttransfusion
möchte, dann ist das sein Recht. Ich würde auch den Suizid oder die
Beihilfe dazu nicht komplett verbieten. Was die wenigsten wissen:
Suizidbeihilfe ist in Deutschland sogar legal. Viele Medikamente, die
zum Tod führen können, sind in Apotheken erhältlich. In Deutschland wird
gezielt von bestimmten Kräften der Eindruck erweckt, alles sei verboten
und man müsse in die Schweiz reisen. Das ist völliger Blödsinn.
Dennoch sind Sie gegen eine organisierte Suizidbeihilfe...
Wir
müssen verhindern, dass Menschen sich den Entschluss, eine Selbsttötung
zu begehen, zu leicht machen. Egal, in welche Länder Sie schauen, die
Zahlen der sogenannten Brutalsuizide, also durch Erschiessen oder
Vergiften etwa, werden durch eine organisierte Beihilfe nicht geringer.
Aber die Zahl der Selbsttötungen insgesamt nimmt zu.
Sie
sprechen davon, dass eine Lobby gezielt Angst schüre, um eine
Liberalisierung der Gesetze herbeizuführen. Was und wen meinen Sie
damit?
Es gibt da einerseits das
sogenannte Right-to-Die-Movement, das gezielt Lobbyarbeit für das Thema
macht. Andererseits gibt es Einzelpersonen, die eine geschäftsmässige
Suizidbeihilfe unterstützten – oft einfach, weil sie schlecht informiert
sind. Nehmen Sie Peter Hintze...
... den an Krebs erkrankten und 2016 verstorbenen CDU-Politiker und evangelischen Pastor.
Er
sprach immer öffentlich vom Qualtod. Von einem stinkenden Tumor, der
einem Patienten aus dem Hals wächst. Von unerträglichen, nicht
behandelbaren Schmerzen und von grausamem Ersticken. Ich sage Ihnen:
Nichts ist medizinisch leichter als Atemnot zu lindern. Man muss nur
wissen, wie man es macht. Schmerzen kann man sowieso in den Griff
bekommen. 99,999 Prozent dieser ganzen genannten Fälle können wir so
behandeln, dass das Leid erträglich wird. Nur leider fehlt in manchen
Krankenhäusern das Handwerkszeug dafür und auch das Wissen. Und auch in
der Bevölkerung: Über die Möglichkeiten der Palliativmedizin klärt
niemand auf. Wenn alle wüssten, was wir echten Experten wissen, bräuchte
es keine Debatte um Sterbehilfe. Aber die Realität ist: Im Jahr sterben
in Deutschland 900'000 Menschen. Und ein grosser Anteil von ihnen leidet
massiv.
Und dann kommen Sie als Palliativmediziner und greifen ein?
Hoffentlich.
Vor nicht langer Zeit hatte ich einen Patienten, der kam zu mir ins
Krankenhaus und wollte eigentlich nur eine Spritze haben, damit er
sterben kann. Er hatte unerträgliche Schmerzen, seit Monaten zunehmend,
und wurde in den letzten zwei Wochen in einem Krankenhaus der
Maximalversorgung behandelt. Und das sogar unter dem Label
Palliativversorgung. Ich habe keine zehn Minuten gebraucht, da waren
seine Schmerzen weg. Seine erste Frage war: Wieso haben die das denn
nicht vorher gemacht? Sein Sterbewunsch verschwand dennoch nicht. Er
hatte einfach zu lange gelitten. Er hat Wasser und Nahrung verweigert –
und ist einige Tage später dadurch gestorben. Ich kenne viele solcher
Fälle und leider haben sie gemeinsam, dass ich viel zu spät dazugerufen
wurde. Fälle wie dieser zeigen auch: Niemand muss verrecken.
Es fehlt offenbar nicht nur an Aufklärung, sondern auch an Fachpersonal in Krankenhäusern.
Zum
einen sorgt die Sterbehilfelobby dafür, dass auch Ärzte in Sorge sind:
Es wird der Eindruck erweckt, wer am Ende des Lebens eines Patienten
nicht vorsichtig ist, der macht sich wegen Sterbehilfe strafbar. Dabei
zeigt das aktuelle Urteil vom Bundesgerichtshof, dass viel mehr beim
Sterben Zulassen erlaubt ist, als die meisten wissen. Und: Das Wissen um
die Möglichkeiten der Leidenslinderung ohne ein wesentliches Risiko der
Lebensverkürzung ist noch nicht so lange vorhanden. Es dauert eben
immer zwei bis drei Jahrzehnte, bis sich in der Ärzteschaft Methoden
etabliert haben.
Was raten Sie Patienten oder Angehörigen von Patienten, die in einer solchen Situation sind?
Sie
sollen jemanden fragen, der sich auskennt. Und wenn dieser Experte
sagt, man könne nichts tun, dann ist es wahrscheinlich jemand, der sich
nicht gut auskennt. Gut informiert sind in der Regel die Teams der
spezialisierten ambulanten Palliativversorgung. In Krankenhäusern ist
der Zugang zu einer angemessenen Behandlung tendenziell schwieriger als
zu Hause, weil da so viele verschiedene Ärzte und Pfleger beteiligt
sind, auch wegen der Schichtwechsel.
Wieso weiss davon kaum jemand?
Viele
meiner Kollegen, die gut arbeiten, haben kein Interesse daran, auch
noch Lobbyarbeit zu machen. Ich finde, da sollten diejenigen ins Feld
kommen, die ein ethisches Interesse daran haben, dass das Thema
bekannter wird. Die Kirchen zum Beispiel. Stellen Sie sich vor, in allen
Kirchgemeinden lägen Informationen zur Palliativmedizin aus. Da könnte
doch eine ziemlich grosse Anzahl von Menschen erreicht werden.
Wo
Sie die Kirchen ansprechen ... auch in ihren Reihen gibt es Befürworter
einer organisierten Suizidbeihilfe. Etwa Anne Schneider, die Ehefrau
des ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Nikolaus Schneider.
Anne
Schneider war in ihrem Urteil fehlgeleitet. Sie ist eine der vielen, die
sich haben verunsichern lassen. Ich habe den Kontakt zu ihr gesucht,
als sie ihre Meinung öffentlich machte, und sie hat selbst zugegeben,
dass sie vieles nicht gewusst hat. Auch zu der Frage, was in Deutschland
legal möglich ist und was nicht.
Der
Suizid scheint für Sie ein nachvollziehbarer Ausweg aus Leid zu sein.
Warum dann nicht einen Schritt weiter gehen und die Sterbenden von einem
Experten begleiten lassen, der im Zweifel verhindern kann, dass etwas
schiefgeht?
Brutalsuizide und
Suizidbeihilfe stehen in keinem Zusammenhang. Es erschiessen oder
vergiften sich nicht deshalb weniger Menschen, weil eine organisierte
Sterbehilfe erlaubt ist. Das ist eine Lüge der Sterbehilfelobby. In der
Schweiz gibt es viel mehr Suizide als in Deutschland. Die Menschen, die
sich selbst das Leben nehmen, sind andere als jene, die organisierte
Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Es ist wirklich erschreckend: In
Ländern, die organisierte Suizidbeihilfe einführen, steigen sogar auch
die Zahlen der Brutalsuizide. Und: Suizide bei Palliativpatienten sind
extrem selten – viel seltener als in der Normalbevölkerung. Dabei hätten
sie, wenn sie sich wirklich etwas antun wollten, genug Medikamente dazu
zur Verfügung.
Kann das nicht zu noch grösserem Leid führen, wenn derjenige das Mittel falsch anwendet?
Da
sind wir an einem spannenden Punkt: Todsicher ist die Sache nämlich nur
dann, wenn der Arzt Sie tötet. Suizidassistenz kann fehlschlagen. Wenn
Sie also die Gesetze mit diesem Argument so öffnen, dass Beihilfe legal
ist, dann müssten Sie konsequenterweise auch die Tötung auf Verlangen
legalisieren.
Sie sagen, Sie
würden einen Patienten bei schlimmem Leid mild narkotisieren, sodass er
schläft. Sie sagen, Sie würden es sogar ihm überlassen, sich mit den
eigenen Medikamenten umzubringen. Warum dann nicht die Suizidassistenz?
Das
ist eine reine Vorsichtsmassnahme. Ich weiss, Leiden können wir lindern.
Ich weiss, die Patienten haben Angst zu leiden, und kann ihnen sagen: Das
müssen Sie nicht. Und ich habe Sorge, dass wir mit der legalen
geschäftsmässigen Beihilfe eine Grenze überschreiten, die den Suizid zum
Normalfall erklärt. Denn es ist völlig klar: Wenn ich die Suizidhandlung
erleichtere oder sogar das anbiete, was die Patienten eigentlich
wollen, nämlich, dass ich sie töte, dann wird die Nachfrage steigen.
Ist es in Ihren Augen eine christliche Haltung, die geschäftsmässige Suizidbeihilfe abzulehnen?
Es
ist definitiv eine christliche Haltung, aber sie ist nicht exklusiv
christlich. Ich denke, andere Religionen, auch Agnostiker, sehen es
genauso.
Es gibt Christen, die das anders sehen. Anne Schneider und Peter Hintze haben Sie bereits genannt.
Aus
der Bibel heraus anders zu argumentieren, halte ich für sehr schwierig.
Aus christlicher Sicht ist uns das Leben gegeben. Und das bedeutet
nicht, dass es – so wie Anne Schneider sagt – ein Geschenk ist, das ich
zurückgeben kann. Wenn ich ein ganz tolles Geschenk von jemandem
bekomme, dann ist es doch eine arge Beleidigung für den Schenker, wenn
ich es ihm irgendwann wiedergebe. Es beleidigt den Schöpfer. Ich habe
aber auch in all der Zeit, in der ich jetzt als Palliativmediziner
arbeite, keinen Fall erlebt, wo das nötig gewesen wäre.
Bisher
haben wir nur die Patienten in den Blick genommen, die Angst haben vor
Schmerzen oder vor qualvollem Ersticken, also körperlichen Symptomen.
Was ist mit denen, die sich davor fürchten, ihre Unabhängigkeit zu
verlieren oder sogar ihre Würde, weil sie gepflegt, gewaschen, gefüttert
werden müssten – und deshalb einen assistierten Suizid wünschen? Was
sagen Sie denen?
Das sind für
mich die schwierigsten Diagnosen. Es ist wirklich schwer, solchen
Menschen Alternativen aufzuzeigen, um weiterzuleben. Wenn mir ein
solcher Patient sagt, dass er so nicht leben möchte, dann akzeptiere ich
das. Dennoch würde ich ihn nicht töten. Einerseits können die meisten
Patienten es noch selbst tun, wenn sie es wirklich wollen. Andererseits
ist es bei extrem Pflegebedürftigen ein Leichtes, den Tod schnell
herbeizuführen, etwa, indem man die Lebenserhaltung nicht fortsetzt.
Nehmen Sie einen Menschen wie Stephen Hawking, der für die Tötung auf
Verlangen geworben hat...
Der weltbekannte Astrophysiker litt unter ALS und starb im Jahr 2018.
Der
braucht doch keine Suizidbeihilfe und keine Tötung auf Verlangen, er
muss nur sagen, dass er nicht mehr behandelt werden will, und er stirbt.
Und wenn er sich vor dem Ersticken gefürchtet hätte, dann wäre
hoffentlich ein Palliativmediziner dagewesen, der ihm ein Medikament
gibt, dass die Atemnot lindert. In Deutschland darf niemand dazu
gezwungen werden, eine Behandlung fortzuführen.
Sie
sprechen jetzt von Patienten, die ihre Entscheidung noch eigenmächtig
treffen und sie kommunizieren können. Was ist mit Demenzkranken zum
Beispiel?
Vor so einer Krankheit
haben die meisten Menschen Angst. Helfen wir einem solchen Patienten
aber beim Sterben, dann ist das keine Beihilfe mehr, sondern eine Tötung
ohne Verlangen. Denn jemand, der schwer dement ist, fragt nicht nach
Suizidbeihilfe. Ich stelle mir Dementwerden sehr unangenehm vor – aber
dement sein? Wer einmal so schwer erkrankt ist, hat im Grunde kein
Problem mehr, weil er nicht merkt, wie es ihm geht. Wollen wir Dementen
ohne sichtbaren Leidensdruck das Lebensrecht absprechen? Wollen wir
schwerst-mehrfachbehinderten Menschen oder solchen mit Down-Syndrom das
Lebensrecht absprechen? Da sind Sie mitten in der Lebenswertdiskussion
angekommen. Meine ethische, christliche und medizinische Überzeugung
ist: Wir dürfen kein Leben medizinisch verlängern, wenn der Patient
nicht einwilligt. Und es reicht nicht aus, dass dieser Patient einmal zu
irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens gesagt hat, dass er das nicht will,
sondern wir müssen jeden Tag neu danach fragen, was der Wille des
Patienten in diesem Moment ist.
Jeder
vierte Sterbende in Deutschland hat den Wunsch nach Lebensverkürzung.
77 Prozent der Deutschen befürworten passive Sterbehilfe, 62 Prozent
sogar die aktive Sterbehilfe. Die Deutschen sind sich offenbar sicher,
was sie wollen...
Nein, das sind
sie nicht. Denn sie haben keine Ahnung von den Möglichkeiten der
Palliativmedizin und der aktuellen Gesetzeslage – wissen also nicht, was
tatsächlich geht. Und zweitens können viele der Befragten aktive und
passive «Sterbehilfe» gar nicht unterscheiden. Wir als Palliativstiftung
haben auch Umfragen dazu gemacht, die klar gezeigt haben: Das Wissen
geht völlig durcheinander.
Sie
haben andernorts von einem «Trend zur Euthanasie» gesprochen. Haben wir
in einigen Jahren die legale aktive Sterbehilfe in Deutschland?
Ich
gehe davon aus, dass wir diesen Trend verzögern, aber nicht verhindern
können. Die Masse der Menschen ist schlicht zu schlecht informiert. Und
die Versprechen der Befürworter klingen einfach zu schön.
Das
Bundesverfassungsgericht beschäftigt sich gerade mit den Klagen von
Ärzten, Patienten und Vereinen gegen das aktuelle Verbot der
geschäftsmässigen Suizidbeihilfe. Verstehen Sie die Ärzte, die
Rechtssicherheit einfordern?
Rechtssicherheit
für eine Tat gibt es immer erst nach einer Urteilsverkündung. Ein
Ermittlungsverfahren kann immer auf einen Arzt zukommen, wenn ihm jemand
ans Leder will. Für eine Verurteilung – die es übrigens in Deutschland
noch nie gab – müssten Mediziner derzeit drei Tatbestände erfüllen: Sie
müssen Beihilfe zur Selbsttötung geleistet haben, wie die beiden jetzt
im Fall vor dem Bundesgerichtshof. Sie müssen es geschäftsmässig getan
haben und es muss eine Absicht zur Wiederholung und eine Absicht zur
Förderung der Suizidbeihilfe erkenntlich sein. Wenn das alles vorliegt,
entscheiden Richter. Menschen, die im Einzelfall bei der Selbsttötung
Beihilfe leisten, sind von der Strafe ausgeschlossen. Wer anderes
behauptet, schürt Ängste.
Zum Originalartikel auf PRO:
PRO Medienmagazin
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Autor: Anna Lutz
Quelle: PRO Medienmagazin / www.pro-medienmagazin.de