Neuer Umgang
«Demenz ist keine Krankheit»
Der Giessener Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer fordert einen neuen Umgang mit altersverwirrten Menschen. Nicht die «Demenzindustrie», sondern nachbarschaftliche Hilfe könnten das Problem lösen.
Demenz sei vor allem eine Alterserscheinung und keine Krankheit, sagte Gronemeyer in einem Gespräch mit dem Nachrichtendienst epd. Doch gebe es ein Interesse daran, das Thema in die medizinisch-pflegerische Ecke abzuschieben. «Dann ist es eine Sache der Ärzte, und wir sind es als Gesellschaft los», betonte der Autor des Buches «Das Vierte Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit».
Diagnose ja, Therapie nein
Man müsse aber auch fragen, wer daran verdient. Mit der Zahl der als demenzkrank diagnostizierten Menschen steige die Zahl der Profiteure, etwa im Pflegesektor, in der Medizin oder der Pharmaindustrie, erläuterte Gronemeyer. «Der Begriff Krankheit gaukelt vor, dass es etwas zu heilen gibt.» Doch könne die Medizin derzeit nur eine Diagnose stellen, aber keine Therapie bieten. «Das kann misstrauisch machen.» Nach Darstellung des Wissenschaftlers werden sehr hohe Summen in die Früherkennung investiert, zwei Drittel der Tests zur Frühdiagnose beträfen Personen, die keine Symptome hätten.
Derzeit leben in Deutschland 1,2 Millionen Menschen mit Demenz, 2050 werden es Schätzungen zufolge 2,6 Millionen sein. Der gesamte «Demenz-Apparat» sehe sich als Wachstumsbranche, sagte Gronemeyer. Doch sei es illusorisch zu glauben, man müsse nur mit medizinisch-pflegerischen Mitteln auf das Problem reagieren. «Wie soll das eigentlich aussehen in einer Gesellschaft, in der es immer weniger junge Leute gibt? Die Demenzindustrie – Arztpraxen, Apotheken, Pharmaindustrie, Pflegedienste, Heime, Selbsthilfegruppen – wird das Problem nicht lösen», so Gronemeyer.
«Die soziale Seite der Demenz wahrnehmen»
Demenz hänge auch mit sozialer Isolation in den Industriegesellschaften zusammen, betonte Gronemeyer. Es wundere nicht, dass die Verläufe heute dramatischer seien als früher, als die Menschen stärker sozial eingebunden waren. «Wir müssen die soziale Seite der Demenz wahrnehmen», forderte er. Lösungen müssten in den Kommunen gefunden werden. Eine «neue Kultur des Helfens» und «die Neuerfindung einer nachbarschaftlichen Gesellschaft» seien nötig. Jeder könne etwas tun: zum Beispiel pflegende Angehörige entlasten. Das Thema Demenz stelle die Gesellschaft vor Fragen, für die es noch keine Antworten und in der Geschichte keine Beispiele gebe.Zum Thema:
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Quelle: Epd