Vision erregt die Gemüter

Anglikaner: 10'000 neue Gemeinschaften – echt?

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Anglikanische Kirchen in England (Bild: Church Times)
Die «Visions- und Strategiegruppe» der Anglikanischen Kirche hat die Vision vorgestellt, bis 2030 10'000 neue Gemeinschaften zu gründen. Gegen diesen Plan «Myriad» und die Umverteilung von Geldern erhebt sich massiver Protest.

Der Leiter der anglikanischen Gemeindegründungs-Initiative, Rev. Canon John McGinley von der Bewegung «New Vine», stellte die Grundzüge der Vision «Myriad» (griechisch für 10'000) im Juli an einer Gemeindegründungs-Konferenz vor: Bis zum Jahr 2030 sollen 10'000 neue anglikanische Gemeinschaften entstehen – zum grossen Teil von Laien geleitet und beheimatet in Cafés, Warenhäusern, Einkaufszentren, leeren Geschäften, in der freien Natur und an anderen unkonventionellen Orten.

Klare Definition von «Gemeinde»

McGinley erklärte, dass die meisten dieser Neugründungen klein anfangen und viele auch in der Grössenordnung von 20 bis 30 Personen bleiben würde. Alle müssten sich einer klaren Definition von «Gemeinde» unterstellen; dazu gehöre die Verpflichtung, das Evangelium zu verkündigen, regelmässig zum sakramentalen Gottesdienst zusammenzukommen, offen zu sein für jedermann und mehr als 20 Personen zu umfassen.

Die besoldete Pfarrerschaft, Kirchengebäude und die traditionelle universitäre theologische Ausbildung werden in der Vision «Myriad» als «begrenzende Faktoren» für das Wachstum der Anglikaner bezeichnet. «Wenn man kein Gebäude, keinen Pfarrerlohn und kein teures universitäres Studium für jeden Leiter in der Kirche mehr braucht (…), dann können wir neue Leute freisetzen, zu leiten und neue Gemeinden zu bilden. So wird Jüngerschaft umgesetzt. In der Gemeindegründung gibt's keine blossen Passagiere», erklärte McGinley. Die Zahl von 10'000 neuen Gemeinden sei «provokativ gross und zwingt uns, anders zu planen, zu beten und zu arbeiten, als wenn wir nur hier und da ein bisschen etwas verändern oder frisieren». 

Parallele Initiative

Obwohl die Initiative «Myriad» im Vorfeld mit allen Bischöfen abgesprochen und die Zahl 10'000 eher als «Inspiration als als Druck» erklärt wurde, beeilte sich etwa der Bischof von Truro, Rt Revd Philip Mounstephen, zu erklären: «Damit ist sie aber noch nicht so etwas wie eine 'offizielle' nationale Initiative.»

Fast gleichzeitig mit der Vision «Myriad» legte der Erzbischof von York, Stephen Cottrell, der anglikanischen Synode ein weiteres «Visions- und Strategiedokument» vor, das eine jüngere und diversere Kirche vorsieht und eine «gemischte Praxis aus traditionellen Kirchgemeinden und 'fresh expressions' anstrebt mit dem Ziel, die zu erreichen, die in keinen traditionellen Gottesdienst kommen».

«Rettet die Kirchgemeinde»

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Markus Walker, Rektor von St. Bartholomew the Great
Auch von anderer Seite reagieren kirchliche Leiter aufgeschreckt. Noch im Sommer wurde eine Kampagne namens «Save the Parish» (Rettet die Kirchgemeinde) lanciert, um das System zu retten, «das die Christenheit seit 1000 Jahren erhalten hat». Die Visionen, Tausende von alternativen Formen von Gemeinden zu gründen, bezeichnet Father Marcus Walker, Rektor von St. Bartholomew the Great in London, als einen weiteren Versuch, Resourcen aus den traditionellen Kirchgemeinden abzuziehen zugunsten «einer Art von Kirche in einem Kino, einer Scheune oder in einem früheren chinesischen Takeaway».

Walker bezieht sich auf ein Projekt der Anglikanischen Kirche in Rochdale. Die Diözese Manchester hatte das Gebäude gekauft und eine alternative «Kirche», zwei Minuten vom traditionellen Kirchgebäude, finanziell stark unterstützt. «Wir können Bands auftreten lassen, vielen Menschen Essen servieren, Familien mit kleinen Kindern Bastelarbeiten und Aktivitäten anbieten. Wir konkurrieren nicht mit den Kirchen in der Nähe, sondern versuchen, andere Menschen anzusprechen. Wir sehen bereits kleine grüne Sprösslinge», sagte Pfarrerin Janie Cronin, von «Holy Trinity Brompton» in die neue Kirche entsandt.

Walker und die Bewegung «Save the Parish» kritisieren, dass nur noch «aufregende Projekte und sexy neue Management-Jobs» aus dem Topf der Kirche finanziert würden, während die 'langweiligen, schnarchenden Kirchgemeinden' kein Geld mehr bekämen.»

«Aggressive Übernahme der Kirche»

Der ehemalige Erzbischof von Canterbury, George Carey, unterstützt den Ruf, die traditionelle Kirchgemeinde zu retten: «Die derzeitige Entwicklung unserer Kirche ist ein grosser Fehler, und die Leitung hat keinen Kontakt zu den normalen Kirchgängern», schreibt er. Und der einflussreiche Journalist Giles Fraser beklagt in einem Kommentar: «Im Mittelpunkt dieser neuen Bewegung stehen jedoch nicht ehemalige Erzbischöfe, sondern einfache Gemeindemitglieder und Pfarrer, die glauben, dass sich die Kirche selbst gegen sie gewendet hat. Sie haben miterlebt, wie sich der Schwerpunkt der kirchlichen Angelegenheiten – ebenso wie die Finanzierung – von der örtlichen Gemeinde zu einer zunehmend bürokratischen und zentralisierten Kirchenstruktur verlagert hat. Es sind die einfachen Kirchgänger und die treuen Kirchenvorsteher, die sich seit Jahren um ihre Kirchen kümmern, sowie die Geistlichen, die in ihrer Gemeinde unterwegs sind, um Kranke zu besuchen, Tote zu begraben und die Sakramente zu spenden, die über diesen Verrat am meisten verärgert sind. Es fühlt sich an, als befänden wir uns mitten in einer aggressiven Firmenübernahme.»

Dave Male, Direktor für Evangelisation und Jüngerschaft der Kirche von England, weist die Behauptung zurück, dass die traditionellen Pfarrkirchen heruntergewirtschaftet würden. Das Ziel sei es vielmehr, «die Kirchgemeinde wiederzubeleben, die Kirche von England gesund und wachsend zu sehen und eine Kirche für die Zukunft zu bauen», sagte er. «Wir versuchen aber auch, an die 90 Prozent der Bevölkerung zu denken, die nicht in die Kirche gehen. Wir wissen, dass nicht alles, was wir versuchen, funktionieren wird. Aber wenn wir wachsen wollen, müssen wir die Menschen dort erreichen, wo sie sind, und wirksame Wege finden, um mit ihnen in Kontakt zu treten.»

In Grossbritannien besuchen weniger als zwei Prozent der Bevölkerung regelmässig einen anglikanischen Gottesdienst; der durchschnittliche Gottesdienstbesuch liegt bei 31 Personen, und ein Viertel aller Kirchen werden nur von elf Personen am Sonntag besucht. Jedes Jahr müssen etwa zwei Dutzend Kirchgemeinden schliessen, weil sie den Pfarrer nicht mehr bezahlen können.

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Datum: 09.09.2021
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / The Guardian / UnHerd / Church Times

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