«Das System zur Verantwortung ziehen»
Proteste im Iran: Warum Christen dabei sind
Der Tod von Mahsa Amini durch die iranische Sittenpolizei hat weltweit Empörung ausgelöst und zu Massenprotesten geführt. Auch Christen beteiligen sich an diesen Protesten und schliessen sich den Forderungen an.
Mansour Borji, Advocacy Director bei «Article 18», einer in London ansässigen Gruppe, die sich für Religionsfreiheit im Iran einsetzt, erklärte in einem Interview mit «Christian Today», warum Aminis Tod so viel Wut ausgelöst hat und ob dies ein Wendepunkt für den Iran werden könnte. Lesen Sie hier das übersetzte Interview.
Waren Sie von dem Ausmass der Proteste und der sehr öffentlichen Darstellung
der Unzufriedenheit mit der iranischen Regierung und dem dortigen Regime
überrascht?
Mansour Borji: Um ehrlich zu sein,
nein. Nach Jahren der Unterdrückung, die den Iran an diesen Siedepunkt gebracht
haben, ist das zu erwarten. Alle zehn Jahre oder so hat es im Iran einen
Volksaufstand gegeben, aber wir erleben, dass diese Aufstände immer häufiger
werden, weil die Menschen so wütend und empört sind, dass sie auf den Strassen
des Irans und an den Universitäten demonstrieren. Sogar Gymnasiasten erheben
sich und nehmen ihre obligatorischen Kopfbedeckungen ab und verbrennen sie. Es
ist ein absoluter ziviler Ungehorsam auf allen Ebenen der Gesellschaft, der die
Iraner aller ethnischen, kulturellen und religiösen Gruppen unter dem
einheitlichen Slogan «Frauen, Leben, Freiheit» vereint.
Hat Sie diese Einigkeit überrascht?
Wir werden seit
Jahrzehnten von einem theokratischen Regime diktatorisch regiert. Als sie vor
über vier Jahrzehnten die Macht übernahmen, haben sie als Erstes allen ihre
eigene religiöse Auslegung aufgezwungen. Es begann mit der Schliessung der
Kirchen und anderer religiöser Gruppen und der Ermordung vieler Führer der Baha'i
und der Christen. Auf gesellschaftlicher Ebene setzten sie ihre eigenen
Moralvorstellungen durch. Der obligatorische Hidschab für Frauen war eine ihrer
ersten Massnahmen, um die Menschen zu unterwerfen. Jetzt kehren die Menschen zu
diesem ersten Akt der Unterdrückung zurück und fordern zurück, was sie von
Anfang an verloren haben, nämlich ihre Freiheit zu wählen: zu wählen, was sie
tragen wollen, zu wählen, was sie glauben wollen, zu wählen, wie sie leben
wollen. Das bringt die ganze Unzufriedenheit auf den Punkt.
Waren Sie enttäuscht von der Reaktion des Obersten Führers des Iran, der sich
auf die Seite der Polizei stellte?
Wir haben uns
darauf eingestellt, aber es handelt sich nicht um eine Person, sondern um ein
System. Sein Machterhalt besteht darin, seine Position zu halten und nicht
nachzugeben, also haben die Menschen erkannt, dass es unter ihm keine Chance
für Reformen gibt und dass er wirklich gehen muss.
Im Iran müssen alle Frauen den Hidschab tragen. Wie fühlen sich die
christlichen Frauen, die ihn tragen müssen? Stört es sie?
Auf jeden Fall. Das
ist eine der Formen der Diskriminierung gegen sie. Viele Iraner sind sich nicht
bewusst, dass sie kein Recht auf Religionsfreiheit haben, bis sie sich
entscheiden, diese Freiheit auszuüben und etwas anderes zu glauben. Dann
bekommen sie den ganzen Zorn der iranischen Behörden zu spüren und erkennen,
dass ihnen dieses Recht vor Jahren genommen wurde. Der Hidschab stammt aus der
Zeit, als die iranische Führungselite ihre religiösen Überzeugungen allen
anderen aufzwang. Die Menschen heute wollen sich anders entscheiden. Sie wollen
nicht, dass die iranischen Behörden die Entscheidung für sie treffen.
Christen beteiligen sich an diesen Protesten nicht nur international, sondern
auch innerhalb des Irans. Die Christen im Iran werden bereits stark verfolgt.
Erhöht die Teilnahme an diesen Protesten das Risiko für sie?
Das ist klar, aber
um ehrlich zu sein: Christen sind Menschen des Risikos. Das hat die frühe
Kirche getan, das hat Christus selbst vorgelebt, und wenn es um Unterdrückung geht,
sei es geistlich, physisch, politisch oder sozial, muss die Kirche an vorderster
Front dabei sein und darf nicht nur hinten anstehen. Sie muss die Wahrheit
aussprechen und die gefallenen Systeme für die Ungerechtigkeiten, die sie den
Menschen antun, zur Verantwortung ziehen.
Ist es zu früh, dies als einen Wendepunkt zu bezeichnen? Glauben Sie, dass dies
tatsächlich zu einem bedeutenden Wandel für den Iran führen könnte?
Viele von uns
hoffen und beten dafür. Während des Zweiten Weltkriegs sagte Winston Churchill: «Dies ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang des Endes. Aber
vielleicht ist es das Ende des Anfangs.» Wir sind fast am Ziel, und ich
hoffe, dass genug Blut geflossen ist und es ein Ende haben wird. Diese
Regierung hat ihre Legitimität innerhalb des Landes verloren und sich gegenüber
vielen anderen Ländern in der Region, wie Irak, Syrien, Libanon und Jemen, wie
ein Tyrann verhalten und sie mit Instabilität bedroht, aber auch weltweit mit
ihren nuklearen Ambitionen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass die Welt mehr
Frieden in dieser Region sieht.
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Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Christian Today / übersetzt und bearbeitet von Livenet