Vor allem Einsatz für Kinder
Polen: Kirchen leisten Hauptarbeit der Flüchtlingshilfe
Polen hat über drei Millionen Flüchtende aus der Ukraine aufgenommen. Besucher berichten, wie christliche Gemeinden mit den Behörden zusammenarbeiten, um vor allem Kindern die Situation zu erleichtern.
Dr. Johannes Reimer, Leiter des Departments of Public Engagements in der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA), und Manuel Böhm (MA), Leiter des Unterstützungsfonds der WEA für die Ukraine, haben kürzlich Polen besucht und sich besonders vom Einsatz verschiedener christlicher Gemeinden für die Geflüchteten überzeugt. Allein Warschau ist in kurzer Zeit um über 300'000 Menschen gewachsen; wie bewältigen sie diese Menge an Menschen? Wo sind die Christen besonders aktiv?
Kinder in riesigen Aufnahmehallen
Reimer: «Unter anderem trafen wir das frisch verheiratete Ehepaar Natascha und Ivan. Beide sind aus Belarus nach Polen geflohen, um so dem Diktat des Präsidenten Lukaschenko zu entgehen. (…) Ivan verweigerte sich dem Gedanken, eines Tages in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. So endete ihre Hochzeitsreise nach dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine mit der Einwanderung nach Polen. Vom ersten Tag an beschloss das junge Ehepaar, den Flüchtlingen aus der Ukraine mit allem, was sie konnten zur Seite zu stehen. Sie setzten sich schon bald in der Arbeit ihrer Gemeinde im grössten Empfangslager für ukrainische Flüchtlinge in der Betreuung der Kinder ein.»
Reimer weiter: «Diese wunderbare Arbeit hat das charismatische Zentrum der Stadt Warschau, geleitet vom Hauptpastor Christof Zaremba, aufgebaut. Geflüchtete Kinder haben hier unter den anderen Geflüchteten in fünf riesigen Ausstellungshallen mit der Kapazität für je zehntausend Menschen mehrere Räume, die die Freiwilligen liebevoll für sie hergerichtet haben. Sie wirken wie ganz normale Kinderstätten, nur dass sie in einer umfunktionierten Messehalle sind.»
Tausende von Kindern sind in den letzten Monaten durch die schön und kindgerecht eingerichtete Kinderstube gekommen, in der Natascha und Ivan mitarbeiten, bevor sie sich auf den Weg in eine neue Zukunft machen. «Wir bemühen uns sehr, den Kindern inmitten dieser riesigen Halle mit zehntausenden von Menschen eine Art Wohn- und Spielzimmer zu schaffen», berichtet Natascha. «Viele dieser Kinder haben unaussprechbare Gräuel erlebt. Manchmal reden sie kein Wort mit uns. Und sobald sie hören, dass wir aus Weissrussland kommen, zucken einige von ihnen zusammen, da auch Weissrussen sie angegriffen haben. Andere Freiwillige haben uns von Kindern berichtet, die gesehen haben, wie ihre Mütter vergewaltigt und manchmal sogar vor ihren Augen getötet wurden. Ihre Angst vor uns, den Belorussen, die an Putins Seite im Krieg stehen, ist verständlich. Und doch lieben wir sie und tun alles dafür, ihre Angst zu überwinden und es gelingt uns mit Gottes Hilfe.»
Das russische Herz ist zerbrochen
Mit Tränen in den Augen erzählt Natascha, wie ein Mädchen in Belarus drei Flaggen in Herzform malte, eine ukrainische, polnische und russische (siehe Titelbild). Alle Flaggen wurden von ihr mit einem Smiley versehen. Auf der ukrainischen und polnischen Flagge lachten die Gesichter. Nur die russische Flagge schmückte ein trauriges Gesicht. «Warum ist denn das Gesicht auf der russischen Flagge so traurig?», wollte Natascha vom Mädchen wissen. «Mein Herz (Russland) ist gebrochen. Es hat keine Freunde mehr», antwortete das kleine Mädchen traurig.
«Das kleine Mädchen versteht, so scheint es mir», ergänzt Ivan, «mehr als manch ein Politiker. Was Menschen brauchen sind Freunde und Liebe. Erst recht, wenn die Machtmenschen dieser Welt Menschen aufeinanderhetzen.»
«Alle Menschen in Not erhalten unsere Hilfe»
Eine andere Gemeinde, die sich massiv für die Flüchtenden einsetzt, ist die russischsprachige Baptistengemeinde im Zentrum Warschaus. Michail Buloha, ein aus der Ukraine stammender Pastor mit ungarischen Wurzeln, leitet hier seit sechs Jahren die Gemeinde. Waren es bis zum Krieg vor allem russisch-sprachige Gastarbeiter, die sich seiner Gemeinde anschlossen, so sind es jetzt Flüchtlinge aus der Ukraine und Belarus. Auf 600 Besucher sei der sonntägliche Gottesdienst angeschwollen. «Wir machen hier keinen Unterschied zwischen Ukrainern, Belarussen oder sogar Russen. Alle Menschen in Not erhalten unsere Hilfe.»
Seit dem Beginn des Krieges hat die Gemeinde sich um mehr als 15'000 Flüchtlinge gekümmert. Jeden Tag erhalten bis zu 200 Familien Grundnahrungsmittel, Hygieneartikel, Medikamente und eine warme Mahlzeit. Die Spenden dafür kommen vor allem aus der Bevölkerung und der Gemeinde selbst. «Die Gemeinde setzt sich auch für die psychologische Betreuung der Menschen ein», so Johannes Reimer. «Mit der Hilfe vom Netzwerk für Frieden und Versöhnung wurden Mitarbeiter in Traumabetreuung ausgebildet und so kann jeder, der Hilfe sucht, auch Hilfe erhalten.»
Nicht zuletzt durch den grossen Zuzug von russischsprachigen Menschen «muss» die Gemeinde nun neue Zweiggemeinden aufmachen. «Wir sind an sieben Orten dabei, neue Gemeinden aufzubauen», berichtet Pastor Buloha.
Kirchen leisten Hauptarbeit der Flüchtlingshilfe
Die Baptisten sind nicht die einzigen in Polen, die eine grossangelegte Flüchtlingshilfe leisten. Auch Pfingst- und Brüdergemeinden, Evangelische und Katholischen Parochien sind ähnlich aktiv. Buloha stellt fest: «Das Gros der Flüchtlingshilfe in Polen wird von den Kirchen geleistet. Wenn diese sich nicht so für die Menschen einsetzen würden, wäre die Hilfe längst zusammengebrochen.»Zum Thema:
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Autor: Dr. Johannes Reimer / bearb. Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet