Interview zum Buch

Michael Dieners «Raus aus der Sackgasse»

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Michael Diener
Pietismus und evangelikale Bewegung sind für die einen bewahrende Grössen evangelischen Glaubens, für andere unzeitgemässe Überbleibsel einer vergangenen Epoche. «Weder noch», meint Michael Diener und macht sich stark für ihre neue Glaubwürdigkeit.

«Raus aus der Sackgasse» heisst das neue Buch von Dr. Michael Diener (59), einem «Pfälzer und Pfarrer, […] Grenzgänger und Brückenbauer, überzeugte[m] Mitgestalter einer Kirche für heute und morgen». Hauke Burgarth hat ihn dazu interviewt.

Herr Diener, Sie widmen das Buch Ihren erwachsenen Kindern. Wen hatten Sie beim Schreiben besonders im Blick?
Mir geht es darum, wie wir als Kirche in unserer Gesellschaft noch Gehör finden, aber auch attraktiv werden. Und ein entscheidender Gradmesser für mich ist: Erreichen wir junge Menschen? Menschen in meinem Alter dominieren Kirche gerade, Jüngere kommen – nicht nur in der Pandemie – eher zu kurz. Ich wollte deshalb besonders auf junge Menschen hören und ihre Fragen und Impulse aufnehmen. Dies erlebe ich hautnah mit meinen Kindern, nehme es aber genauso in der Gemeinschaftsbewegung wahr, wenn ich jungen Leuten begegne. Das wollte ich mit der Widmung des Buches ausdrücken, aber mehr noch mit seinem Inhalt.

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Buch «Raus aus der Sackgasse»
Jedes Buch hat ja seine Entstehungsgeschichte. Wann wussten Sie: Ich muss das schreiben?
Ich habe schon 2014/15 darüber nachgedacht, wie ein zukunftsfähiger Pietismus aussehen sollte, und ein Buch dazu geschrieben: «Wenn Christus für uns ist, warum sollten wir gegeneinander sein?» Damals war ich Präses des Gnadauer Verbands, Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und war im Rat der EKD. Noch vor dem Erscheinen kam es zu regelrechten Erdbeben wegen einiger Themen, die ich auch in meinem Buch behandelte. Weil ich in der aufgeheizten Situation kein Öl ins Feuer giessen wollte, zog ich es kurz vor Drucklegung zurück. Dann lag das Material da. In meinem Sabbatjahr und mit Rückblick auf das Geschehen 2016 habe ich die Themen des Buchs noch einmal ganz neu bearbeitet, um sie für mich heilsam und für andere hilfreich aufzuarbeiten.

Erwartungsgemäss reichen die Reaktionen auf das Buch von «Es spricht mir aus der Seele» bis zu «Der Autor hat eine traurige Entwicklung gemacht». Es gab allerdings weder einen besonderen Hype noch besondere Häme. Tut das dem Buch gut?
Wenn ich etwas geschrieben habe, dann lasse ich es los. Ich habe das Buch nach Kräften begleitet, aber gleichzeitig habe ich mir gewünscht, dass es einen ruhigen Weg nimmt. Für die Spiegel-Bestsellerliste ist es zu speziell, aber die Resonanzen, die bei mir ankommen, zeigen, dass es Menschen aus der pietistisch-evangelikalen Bewegung erreicht und ihnen hilft – ob sie darin waren, noch sind oder herauswollen. Und mehr als das: Auch Verantwortliche der Evangelischen Allianz unterstreichen, wie sinnvoll das Brückenbauen und Aufeinander-Zugehen gerade bei unterschiedlichen Positionen ist. Der Pietismus hat Elemente christlichen Glaubens, die die Kirche des 21. Jahrhunderts dringend braucht. Genauso braucht es der Pietismus, von anderen zu lernen, und sich von unterschiedlichen Positionen nicht die gemeinsame Grundlage in Christus nehmen zu lassen. Dabei finde ich es wichtig zu sehen, dass der manchmal laute Widerspruch von «Bekenntniskonservativen» in Wirklichkeit nur von einer sehr kleinen Gruppe kommt.

Sie diskutieren am Schluss noch einige ethische Themen, bei denen es immer wieder zu Auseinandersetzungen kommt: Abtreibung, Homosexualität, Sex vor der Ehe, Gender und die Frage der Geflüchteten. Wie funktioniert Ihrer Meinung nach ein Zusammenleben trotz teils unterschiedlicher Meinungen in diesen Bereichen?
In meiner Lebensgeschichte trage ich beide Elemente in mir: die eher abgegrenzte pietistische Gemeinschaft genauso wie eine volkskirchliche Weite. Und ich habe es in meinen ganzen Jahren in der evangelischen Kirche überwiegend als beglückend erfahren, dass diese Pluralität dort akzeptiert wurde. Gerade wenn ich an jüngere Christen denke, dann merke ich, dass die null Interesse an Grabenkämpfen bei solchen Themen haben. Die sehen die Gesellschaft und wollen das Fruchtbare und Lebendige, das der Glaube bietet, und wollen sich nicht über Homosexualität und Seenotrettung streiten. Die wollen anpacken und etwas tun. Sie sehen stark den Menschen, auch den einzelnen, und dadurch kommt man fast zwangsläufig zu offeneren Positionen. Das heisst nicht, dass jetzt alle gleich denken müssten: Es geht mir um das Ringen um eine verantwortliche Meinung und Bibelauslegung. Dazu müssen wir Menschen einladen.

Seit einer Weile leben und arbeiten Sie als Dekan und Pfarrer in Germersheim. Wie geht es Ihnen damit?
Hervorragend. Doch das bedeutet nicht, dass mein Leben vorher schlecht verlaufen wäre. Ich habe das, was ich früher gemacht habe, ebenfalls von ganzem Herzen getan. Trotzdem sehe ich: Gott hat es gut mit uns gemeint. Meine Frau und ich sind genau an der richtigen Stelle. Wir lieben die wunderschöne Pfalz. Ich geniesse es, weiter kirchenleitend tätig zu sein, aber dabei einen grossen Basisbezug zu haben, weil ich in «meiner» Kirche predige, beerdige und das ganze Kirchenjahr wieder mehr erlebe als früher.

Zum Schluss noch eine Frage: Wenn Sie in Bezug auf die evangelikale und pietistische Bewegung Ihren Traum formulieren – wie sieht der aus?
Da verweise ich gern aufs letzte Kapitel meines Buches, was mein Anliegen zusammenfasst. Mein Traum ist, dass wir mit Freude aus dem Schatz Christi nehmen, was er uns ans Herz gelegt hat. Dass wir es mit denen teilen, die diesen Schatz auch empfangen haben. Und dass wir es miteinander in die Zeit hineintragen, sodass Menschen mit uns fröhlich ihre Strasse ziehen, weil sie mit Gott und Menschen leben. Das ist mein Traum – und ich sehe, dass es durch alle Schwierigkeiten und Entwicklungen so kommen wird. Wir rücken zusammen. Um der Menschen und um des Evangeliums willen.

Herr Diener, vielen Dank für das Gespräch.

Zum Buch:
Michael Diener, Raus aus der Sackgasse! Wie die pietistische und evangelikale Bewegung neu an Glaubwürdigkeit gewinnt, adeo Verlag, gebunden, 240 Seiten, ISBN 978-3-86334-312-5, SFr 31,90 / EUR 20,00.

Zum Thema:
Gemeindekultur heute: Wo sind die Intellektuellen in der Kirche
3dm und missionaler Lebensstil: «Wir gehen nicht zur Kirche, wir sind die Kirche»
Mehr als Landleben: Johannes Reimers Buch «Gottes Herz für dein Dorf»

Datum: 21.10.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

Kommentare

Danke für Ihre Meinung pisteuo, tatsächlich kommt Michael Dieners sehr differenzierte Haltung zu verschiedenen Prägungen innerhalb der evangelikalen und auch der pietistischen Bewegung hier im Interview zu kurz. Ausführlicher und klarer finden Sie sie im Buch. Ein Spannungsfeld bleibt aber sicher erhalten: Sie bezeichnen ihn wie andere seiner kritischen Kollegen als Ex-Evangelikalen. Dabei nimmt er - wie ich finde zu recht - in Anspruch, dass die evangelikale Bewegung breiter und vielfältiger ist, als sie von ihren Verteidigern oft gesehen wird. Es ist eben auch ein rhetorischer Kniff, interne Kritiker "nach draußen" zu schieben. ;-)
Das stimmt, rhetorische Kniffe werden nicht nur von einer einzigen Gruppe angewandt, sondern kommen überall vor. «Nach draussen geschoben» habe ich Herrn Diener in Bezug auf seinen Gegenstand der Kritik, den theologisch konservativen Kreisen, weil er sich selbst davon distanziert. Insofern habe ich den Begriff «Ex-Evangelikale» etwas enger gefasst, was ich hätte erwähnen können/sollen. Aber das Interview finde ich gut, weil es etwas mehr von Dieners Beweggründen herausgeholt hat, statt nur die üblichen 08/15-Antworten.
2) Diesen rhetorischen Kniff wenden auch andere Ex-Evangelikale erfolgreich an (z.B. Jürgen Mette), um echte (liberale) Selbstkritik zu vermeiden und ihre oft schonungslose Kritik als demütige Selbstkritik zu verkaufen. Mit Evangelikalismus/Pietismus haben sie jedoch nichts mehr am Hut, weshalb ihre Abrechnungen von Evangelikalen/Pietisten, die es gerne bleiben wollen, nicht als Selbstkritik genommen werden müssen, sondern als das, was sie sind: als Angriffe auf ihre theologischen Positionen. Das ist legitim – aber dann bitte auch so deklariert.
1) Als freier Mensch darf Herr Diener sagen und schreiben, was er will – als toleranter Mensch sollte er auch andere Meinungen unbeleidigt akzeptieren, was ich ihm zutraue. Als einzige Positionen zum Pietismus/Evangelikalismus gibt es für ihn nur das «waren, NOCH sind oder herauswollen», entsprechend habe der Pietismus nur noch ELEMENTE, die die Kirche brauchen könne – ihn selbst braucht es offenbar nicht mehr. Damit stellt er sich eindeutig ausserhalb der Bewegung, obwohl er doch die Pose eines Insiders einnimmt, der eigentlich nur Selbstkritik übt («WIR Evanglikalen/Pietisten ...»)

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