Weltreligionen
Der Erfolg des Christentums
Nichts hat den Westen mehr geprägt als das Christentum: 2,3 Milliarden Menschen sehen sich als Christen. Keine Religion hat mehr Anhänger, keine ist so stark gewachsen. Alles begann einst mit 30 Anhängern im Jahr 30 nach Christus.
Ohne Pandemien wäre es wohl nie dazu gekommen. Die Frage gehört zu den grössten der Weltgeschichte: Warum setzte sich das Christentum durch? Wie brachte es ein bemerkenswerter, wenn nicht etwas enthusiastischer Jude fertig, dass seine Botschaft noch heute klingt – Menschen tröstet, Menschen erhebt, Menschen erlöst? Ausgemacht war das nicht. Selbst gläubige Christen zu jener Zeit wunderten sich – obwohl sie ja an Wunder glaubten, schreibt der Chefredaktor des «Nebelspalter», Markus Somm. Wir geben es leicht gekürzt weiter.
Tatsächlich handelt es sich um einen spektakulären Vorgang: Als Jesus Christus, der Gründer, um das Jahr 30 von den römischen Behörden am Kreuz hingerichtet wurde, gab es rund 30 «Christen». Etwa 300 Jahre später, im Jahr 350 sind es bereits 33 Millionen Christen. Das entsprach mehr als der Hälfte der gesamten Bevölkerung des römischen Reiches. Das Christentum wurde dann Staatsreligion des Imperiums. Nachdem die Christen jahrhundertelang verfolgt worden waren, kam jetzt in Schwierigkeiten, wer Heide blieb. «Jupiter fiel aus der Zeit. Christus eroberte die Ewigkeit», so der «Nebelspalter» weiter.
Ein neues Reich
Wie war das möglich? Der amerikanische Religionssoziologe Rodney Stark hat versucht, diese Karriere rational zu erklären: Wenn die Christen alle zehn Jahre um 30 bis 40 Prozent zunahmen – mehr oder weniger konstant – dann wuchs ihre Zahl exponentiell, was sich vor allem ab dem Jahr 250 zeigte: Eine Wachstumsrate von 30 bis 40 Prozent ist hoch. Aber Mathematik allein genügte nicht. Wenn die Christen beständig mehr Anhänger für sich gewannen, dann lag das auch an ihrer Religion. Diese sprach gewisse, strategisch bedeutende Gruppen wie Frauen, Juden in der Diaspora und Städter besonders gut an: Die christliche Botschaft war modern, individualistisch, egalitär – und sie wies über den starren Sippen- und Familienverband der antiken Gesellschaften hinaus. Nicht von ungefähr bezeichnete Jesus seine Jünger, ja alle Gläubigen als seine Brüder und Schwestern: «Darum schämt er [Christus] sich auch nicht, sie Brüder zu nennen». (Hebräer Kapitel 2, Vers 11)
Nirgendwo traf das Christentum den Nerv der Menschen deshalb besser als in den grossen, multikulturellen Metropolen des Imperiums: in Alexandria, Antiochia, Karthago. Vor allen Dingen in Rom, dem Schmelztiegel, wo gegen eine Million Menschen aus aller Herren Länder lebte – entfremdet vor ihrer Heimat, ihren Gebräuchen, ihren Religionen. Christus wies ihnen ein neues Reich zu, das Reich Gottes.
Ein Unglück als Beschleuniger
Die Christen profitieren auch im schlimmsten Unglück der römischen Geschichte: Im Jahr 165 brach eine Epidemie aus, wahrscheinlich Pocken, eine der tödlichsten Seuchen überhaupt, die zum ersten Mal Europa verwüstete: 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung des Imperiums starben. Im Gegensatz zu den Heiden überstanden die Christen die Krise aber wesentlich besser. Ihr Glauben sorgte dafür, dass sie mit dem Sterben besser zu Rande kamen – sie glaubten an die Auferstehung. Sie pflegten sich gegenseitig – ihre Religion betonte die Nächstenliebe. Deshalb halfen sie auch Heiden – während diese sich gegenseitig im Stich liessen.
Die Folgen waren zweifach: Es überlebten überproportional mehr Christen, mehr Heiden konvertierten. Denn hatte sich das Christentum nicht als überlegen erwiesen? Bischof Dionysius stellte fest: «Die meisten unserer Brüder bewiesen grenzenlose Liebe und Loyalität, sie schonten sich nie und dachten immer an die anderen. Ungeachtet aller Gefahren kümmerten sie sich um die Kranken und beteten mit ihnen, wenn der Tod nahte, so dass diese ihr Leben heiter und glücklich verliessen. Viele Christen steckten sich eigenhändig an, um ihre Nachbarn zu retten – oft starben sie an deren Stelle.»
Dionysius schrieb das im Jahr 260. Zu diesem Zeitpunkt, hundert Jahre nach den Pocken, hatte eine zweite brutale Epidemie das Reich erfasst: Jetzt waren es die Masern, und wieder starben viel mehr Heiden als Christen. Dionysius bemerkte: «Die Heiden verhielten sich ganz anders als die Christen. Kaum brach die Seuche aus, vertrieben sie die Kranken und liefen ihren Liebsten davon. Diese warfen sie auf die Strasse, noch bevor sie tot waren, und behandelten sie wie Dreck.»
Nach der Pandemie wuchs die Zahl der Christen ins Unermessliche:Iinnert weniger Jahre nahmen sie von einer Million auf acht Millionen zu. Und die römischen Kaiser, die die Christen jahrhundertelang geplagt, gefoltert und getötet hatten, mussten sich umorientieren. 313 leitete Konstantin der Grosse die Wende ein und anerkannte die neue Religion. Er starb im Jahr 337 als Christ. Ob er wirklich an die Auferstehung geglaubt hat, weiss nur Gott allein.
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Autor: Markus Baumgartner
Quelle: DienstagsMail