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(Post-)Moderne Propheten

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Die alttestamentlichen Propheten skizzierten nicht nur Zukunftsszenarien für das Volk Israel, sie ärgerten die damaligen Machthaber auch mit dem Proklamieren der göttlichen Werte. Gibt es solche Propheten heute noch? Und sind sie überhaupt notwendig?

Manchmal suchten alttestamentliche Propheten die direkte Konfrontation mit dem König, mal gab es öffentliche Zeichenhandlungen oder einen Brief. In der heutigen Postmoderne wurde die Frage nach den Werten privatisiert. Um so wichtiger sind deshalb auch postmoderne Prophetinnen und Propheten, die öffentlich aufdecken, wie sich die Machthaber auf Kosten der Schwächeren bereichern.

Zuerst müssen wir die Frage klären, ob es in neutestamentlicher Zeit überhaupt noch gesellschaftliche Propheten gibt. Die Prophetie wird nach Pfingsten als vielleicht wichtigste Geistesgabe aufgeführt und gehört zu den fünf Diensten der christlichen Gemeinde. Die Urchristen legten begreiflicherweise zu Beginn das Augenmerk auf die Gestaltung der Gemeinde und ihre Positionierung in einem oft feindlichen Umfeld. Da hatte gesellschaftliche Prophetie nur wenig Platz.

Das Reich Gottes fordert und fördert Gerechtigkeit

Wer aber die Antrittsrede von Jesus zu Beginn seines Wirkens und das Programm der Bergpredigt studiert, wird rasch merken, dass der Sohn Gottes genau dort anknüpft, wo sein Vater im Alten Testament die Spuren gelegt hat: bei einer Welt, die auf Gerechtigkeit und Frieden gründet. In seiner Nachfolge haben die christlichen Gemeinden deshalb die Gesellschaft mit prophetischen Ansagen und einem entsprechenden Leben geprägt, sobald sie die Möglichkeit dazu sahen – und das bis heute.  

Die Fragen rund um die Gerechtigkeit sind dieselben geblieben wie damals. Sie haben aber manchmal eine andere Gestalt. Das Leben auf Kosten der Schwächeren hat heute u.a. mit Formen des Bankgeheimnisses zu tun, mit Täuschungen der Konsumenten oder mit Wertschöpfungsketten, die auf dem Buckel der Schwächsten möglichst hohe Gewinne abwerfen.

Dieses alte Unrecht des Stärkeren wird in der heutigen Postmoderne begünstigt durch die Privatisierung der Werte, gemäss dem liberalen Glaubenssatz «Jeder soll tun und lassen können, was er will». Dieses Dogma tönt gut, erschwert aber unser Zusammenleben. Ein Vertrag per Handschlag auf Treu und Glauben war früher selbstverständlich und ist heute praktisch undenkbar. Deshalb muss fast alles reguliert werden. Die Mächtigen kümmert das wenig. Sie handeln wo nötig verdeckt, um sich einen Marktvorteil zu sichern. Wenn sie in der Schweiz geschäften, haben sie wenig zu befürchten. Der Finanz- und Handelsplatz Schweiz versucht, so lange es geht, Regulierungen zu vermeiden oder sie zu umgehen. Schliesslich sind wir ja neutral.

Anderes Umfeld, gleiche Werte

Nur schon diese ersten Zusammenhänge zeigen: Auch postmoderne Prophetinnen und Propheten haben viel zu tun. Das Beschaffen ihrer Informationen mag heute anders sein. Grundlegend sind sorgfältige journalistische Recherchen, manchmal braucht es zum Aufdecken des Unrechts sogar Whistleblower oder ethische Hacker, in jedem Fall aber ein geduldiges Sammeln von gesicherten Informationen. Im Ergebnis tun aber auch heutige prophetische Akteure das, was ihre alttestamentlichen Vorbilder getan haben: Sie versuchen, dem Willen Gottes und seinen damit verbundenen Werten Geltung zu verschaffen.

Erfreulicherweise gibt es heute einige christliche Organisationen, die in diesem Sinne tätig sind. Dies vor allem beim Bekämpfen der Armut oder beim Fördern eines ökologischen Lebensstils. Zu unsern informellen Partnern gehören etwa «Stopp-Armut», «ChristNet» oder «Grüner Fisch».

Gewisse Bereiche werden aber, zumindest in der Schweiz, vernachlässigt. Ich denke dabei an den Konsumentenschutz, an den Schutz unserer Daten oder an den prophetischen Blick auf unsern Finanz- und Handelsplatz. Hier übernehmen andere Organisationen den prophetischen Auftrag. Sie orientieren sich oft kaum oder nur indirekt an den göttlichen Werten. Trotzdem sollten wir ihren Einsatz schätzen. Und ihn zum Ansporn nehmen, den Prophetenmantel wieder selber aus dem Schrank zu holen.

Eine verbindliche Erklärung und hellwache Augen

Ein schönes Beispiel dazu ist die Erklärung von Bern, eine Nichtregierungsorganisation, die sich heute Public Eye nennt. Schön ist das Beispiel, weil das Aufgleisen dieser Erklärung tatsächlich von der Bibel inspiriert war. Sie wurde 1968 von Schweizer Theologie-Studierenden verfasst.

Diese begründeten ihr Engagement so: «Unter denen, die heute täglich in unserer Welt geboren werden, ist eine grosse Zahl von Menschen, die, nach statistischen Prognosen, sich nicht werden satt essen können, die weder eine Schule besuchen noch einen Beruf werden erlernen können und denen somit die menschlichen Elementarrechte nicht zugutekommen werden. Wir gehören wohl zur ersten Generation, die das Ausmass dieser Not erkennt, die aber zugleich auch über die Mittel verfügt, um ihr begegnen zu können. Wir, die wir zu den Begünstigten in der Welt gehören, versäumen unsere erste Pflicht, wenn wir nicht alles, was uns nur möglich ist, tun, um den Kampf gegen Hunger und Elend zu führen, der zugleich der Kampf für die Rechte und Würde des Menschen ist.»

So tönt die 68-er-Revolution in einem prophetischen Gewand. Die Initianten würdigen die private Initiative von Hilfswerken, zusammen mit dem Wirken von Missionaren: «Dankbar anerkennen wir auch, dass christliche Missionare die Hilfe an die Entwicklungsländer sozusagen erfunden haben – meist ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein.» Die staatliche Entwicklungshilfe sei aber ungenügend. Dies führt zur gut merkbaren Formel: «Weniger als monatlich ein Franken pro Kopf unserer Bevölkerung ist, verglichen mit der Grösse der Aufgabe, noch kein ausreichender Beitrag.»

Verpflichtung zur finanziellen Unterstützung

Und dann folgt die leider bis heute gültige Kritik an den unfairen Handelsbeziehungen mit dem Weltsüden: «Für Waren aus den Entwicklungsländern muss ein gerechter Preis bezahlt werden, damit die dort geleistete Arbeit besser entlöhnt werden kann. Um das zu erreichen, dürfen wir in den Ländern der Dritten Welt nicht ökonomische Strukturen stützen, die auf weite Sicht die Entwicklung dieser Länder nur hemmen können.» Die Konsequenz daraus: «Wir schlagen vor, ein Institut zu schaffen zum Studium der Probleme, die sich unserem Land durch die Situation in der Dritten Welt stellen und zur Koordination aller bisherigen und neu zu unternehmenden Anstrengungen in diesem Bereich. Zur Aufgabe dieses Instituts gehört auch die bessere Information unserer Öffentlichkeit.»

Die eigentliche Erklärung von Bern ist dann eine Selbstverpflichtung: «Aus diesem Grunde haben sich die Unterzeichner dieser Erklärung entschlossen, während drei Jahren vom Zeitpunkt ihrer Unterschrift an jeden Monat 3 Prozent ihres Einkommens nach freiem Ermessen einem oder mehreren (weltlichen oder kirchlichen) Hilfswerken zukommen zu lassen, die für die Dritte Welt arbeiten.»

Die Selbstverpflichtung ist heute kein Thema mehr. Schliesslich kann man ja Mitglied bei Public Eye werden und sich in konkreten Aktionen engagieren – von der Unterschriftensammlung bis zu öffentlichen Kundgebungen (die biblischen Propheten lassen grüssen!). Public Eye arbeitet ganz im Sinne der vertieften Aufarbeitung und Recherche weltweit mit ähnlichen Organisationen zusammen. Ich frage mich in diesem Zusammenhang, warum man dies bei christlichen Organisationen noch viel zu wenig tut. Liegt das daran, dass man sich lieber um seinen eigenen Spenderkreis kümmert, statt sich vom Konkurrenten ergänzen zu lassen?

Seriöse Arbeit bringt Früchte

Die Einsicht, dass weltweite Vernetzung zu besseren Resultaten führt, hat Public Eye begriffen. Ihr Jahresbericht 2021 zeigt Früchte dieser Zusammenarbeit, aber auch noch hängige Aufgaben. Zu den Schwerpunkten des letzten Jahres gehörte das Aufdecken von und die Information über Wirtschaftskriminalität, die leider oft mit der Schweiz verbunden ist. Die im letzten Jahr veröffentlichten «Pandora Papers» zeigten dasselbe wie fünf Jahre zuvor die «Panama Papers»: «Von den 20'000 Offshore-Strukturen, die allein von der panamaischen Firma Alcogal geschaffen wurden, sind mehr als ein Drittel mit Schweizer Anwälten, Treuhänderinnen und andern Beraterinnen und Beratern verbunden. Diesem System fällt in erster Linie die Bevölkerung des globalen Systems zum Opfer, der Staatseinnahmen vorenthalten werden.» Die politische Forderung, die sich daraus ergibt: Wie in unsern Nachbarländern üblich brauchen wir laut Public Eye auch hierzulande ein öffentliches Register der wirtschaftlich Berechtigten, das die wahren Eigentümerinnen und Eigentümer von Unternehmen ausweist. Eine entsprechende Petition von Public Eye an den für die Geldwäschereibekämpfung zuständigen Bundesrat Ueli Maurer wurde von 24'000 Menschen unterzeichnet. Das ist gesellschaftliche Prophetie 2022!

Im Jahresbericht kommen auch weitere Bereiche zur Sprache. So die Pharmafirmen, die laut Public Eye aus der Covid-19-Krise ein Bombengeschäft gemacht haben. Pfizer/Biontech und Moderna hätten im letzten Jahr mit ihren Covid-19-Impfstoffen 65'000 Franken pro Minute verdient und dabei riesige Profite gemacht. Dies, obwohl deren Entwicklung zum grössten Teil auf jahrelanger öffentlicher Forschung beruht habe und seit Beginn der Pandemie mit über 100 Milliarden Franken subventioniert worden sei. Reiche Länder haben sich das Mehrfache der benötigten Impfdosen gesichert, während in den ärmsten Ländern gerade mal 5,2 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft werden konnten. Ein gerechterer Zugang zu Covid-19-Technologien sei auch von der Schweizer Pharmalobby und von reichen Ländern wie der Schweiz blockiert worden.

Die Untersuchungen von Public Eye betrafen auch die unfairen Löhne für die Näherinnen und Näher von globalen Modeunternehmen, das Festhalten an der Verbreitung von bei uns verbotenen giftigen Herbiziden in Entwicklungs- und Schwellenländern, Korruptionsfälle rund um die Förderung von Rohstoffen in Guinea und im Amazonasgebiet und das Gewährenlassen von zwielichtigen Handelsunternehmungen mit Sitz in der Schweiz. Wahrlich ein Sündenregister alttestamentlichen Ausmasses – heute einfach im globalen Massstab.

Was können wir tun?

Als einzelne Christinnen und Christen können wir Organisationen, die eine prophetische gesellschaftliche Wirkung haben, gezielt unterstützen. Am liebsten natürlich jene, deren Wurzeln vom Glauben genährt sind. Dort, wo Lücken klaffen, werden es halt dann andere sein. Leider gibt es noch viel zu wenige christliche Geschäftsleute und Landwirte, die ihre Wertschöpfungskette nachvollziehbar so gestalten, dass niemand zu Schaden kommt und die geschöpften Werte gerecht verteilt werden. Das wäre dann prophetisches Unternehmertum!

Als Konsumentinnen und Konsumenten gehören auch wir zu den Machthabern. Wir haben die Möglichkeit, täglich ethisch gute Entwicklungen zu fördern. Ich führe eine lange Liste von Firmen, die ich aus ethischen Gründen boykottiere. Bei den Banken seit Jahrzehnten die UBS und die CS. Da war es mir als Genossenschafter bei der Raiffeisenbank bis vor Kurzem wohler. Sie ist eine der wenigen Banken mit einem christlichen Hintergrund. Falls die jüngsten Turbulenzen sauber aufgearbeitet und allfällige Gesetzeslücken sofort geschlossen werden, bleibt sie meine bevorzugte Bank. Datenkraken wie Facebook und Co. oder Whatsapp gehe ich aus dem Weg, solange der Datenschutz nicht solide gewährleistet ist bzw. brauchbare Alternativen verfügbar sind. Globale Firmen wie Amazon, die ihre Marktmacht missbrauchen, bleiben bei mir aussen vor.

Zu guter Letzt: Unsere Auswahl beim Einkaufen, das Vorgehen beim Entsorgen, unser Energieverbrauch oder das Gestalten der Mobilität machen eines deutlich: Wir müssen nicht Propheten sein, um zeichenhaft handeln zu können – ganz im Sinne von Jesus.

Zum Originalartikel von Forum Integriertes Christsein

Zum Thema:
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Datum: 12.03.2022
Autor: Hanspeter Schmutz
Quelle: Forum Integriertes Christsein

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