Gotteserfahrungen
Von der Notwendigkeit des Ringens mit Gott
Ringen mit Gott? Das tönt altmodisch, irgendwie unpassend zu unseren sonntäglichen Event-Gottesdiensten, in denen es so richtig abgeht und wir uns im gemeinsamen Singen aufbauender Lobpreislieder wohlfühlen. Endlich weg vom manchmal so mühevollen und tristen Alltag. Ringen mit Gott? Will uns da wieder jemand weismachen, dass das Leben kein Sonntagsspaziergang ist?
Ja, genau dies ist die Absicht dieser Zeilen. Mich begeistert an der Bibel, dass sie vielmehr über den «Glauben am Montag» spricht. Da werden uns Menschen vorgestellt in ihren Hochs und Tiefs, da gibt es Beschämendes und Beglückendes, da gibt es Korrektes und genauso viele Fehler. Die Bibel erzählt uns von Menschen, von ihren Schicksalen und ihren Gotteserfahrungen. Und damit erzählt sie eigentlich von uns. Und warum tut sie das? Damit wir wissen: Kein Bereich unseres Lebens ist Gott entzogen.Auch Jakob war solch ein Mensch. Bei ihm gab es Hochs und Tiefs, Beschämendes und Beglückendes, Korrektes und genauso viele Fehler. Wir erinnern uns, dass er einen Bruder gehabt hat, der hiess Esau. Die beiden waren Zwillinge, aber von Anfang an sehr unterschiedlich. Jakobs Name bedeutet: «Er ergreift seine Ferse», im übertragenen Sinn «Er betrügt». Er erhielt diesen Namen, weil er schon bei der Geburt der Erste sein wollte und seinen Bruder Esau mit der Hand an der Ferse umklammert hielt (1. Mose 25,26). Diese Geburtsszene ist symptomatisch, sein Name ist Programm. Jakob lässt nämlich auch später keine Gelegenheit aus, seinen Bruder zu übervorteilen. Zuerst stiehlt er ihm das Erstgeburtsrecht, dann das Erbe und zu guter Letzt den Segen des Vaters Isaak. Jakob hatte den Bogen überspannt und musste vor den Drohungen seines Bruders fliehen. In der Fremde erfährt er dann erstmals am eigenen Leibe, wie es ist, betrogen und ausgetrickst zu werden.
Da ist noch etwas offen
Diese bitteren Erfahrungen mit Laban, seinem Schwiegervater, haben aber auch etwas Gutes. In Jakobs Seele kommt etwas in Bewegung. Er erinnert sich an seine Herkunft und damit auch an die unversöhnte Situation mit seinem Bruder. Da ist noch etwas offen. Und Jakob macht sich mit seinem gesamten Hab und Gut auf den Weg nach Hause wie es ihm der Gott Abrahams, auf den er wieder mehr und mehr hörte, aufs Herz gelegt hat. Je näher er seiner Heimat kommt, desto grösser wird jedoch seine Angst vor der Begegnung mit seiner Vergangenheit, seine Angst vor Esaus Rache. Aber es ist nicht Esau, der Jakob den Zugang zum Land der Verheissung verwehrt. Es ist der «heim-suchende» Gott, der Jakob, bevor er äusserlich in seine Heimat zurück kehrt, zu einer ganzheitlichen inneren Heimkehr führt. In der letzten Nacht, bevor er seinem Bruder nach all den Jahren wieder unter die Augen tritt, da bleibt er allein. Er muss sich alleine durchringen. Das nimmt ihm niemand ab.
Im Bericht über den Kampf am Jabbok (1. Mo 32,23-33) ist es für Jakob zunächst nicht klar, um wen es sich beim Angreifer handelt. Ist es ein Dämon oder ein anderes unheimliches Wesen, das ihn in der Dunkelheit der Nacht entgegentritt? Der Angreifer kann Jakob nicht überwältigen und es ist erstaunlich, dass die Bibel erzählt, Jakob sei stark genug, diesen Fremden festzuhalten. Der Kampf schafft eine Pattsituation und Jakob geht nicht auf die Bitte des Kämpfers ein, ihn gehen zu lassen. Er ahnt, dass es in dieser Auseinandersetzung um viel mehr geht, als um Sieg oder Niederlage. «Ich lasse dich nicht los, bevor du mich gesegnet hast» (32,27).
Der unbekannte Kämpfer geht auf Jakob ein, indem er ihn nach seinem Namen fragt. Er erinnert ihn damit nochmals an die Schuld, die er auf sich geladen hat: «Jakob – er betrügt». «Du sollst nicht länger Jakob heissen», sagt der Mann. «Von jetzt an heisst du Israel. Denn du hast sowohl mit Gott als auch mit Menschen gekämpft und gesiegt.» (32,29).
Der Angreifer hat sich damit als Gott zu erkennen gegeben. Aber Israel, was soviel bedeutet wie «einer der mit Gott kämpft», fällt für einen Moment noch ins alte Jakob-Muster zurück und möchte vom Kämpfer wissen, wie er heisst. Er möchte ihn festnageln, nicht loslassen, ihn an der Ferse gepackt halten. Warum möchte Jakob eigentlich den Namen wissen? Er möchte das Rätselhafte benennen und damit auch beherrschen können. Die Antwort Gottes auf diese Anmassung Jakobs ist nicht etwa enttäuschter Rückzug. Nein, er antwortet Jakob, indem er ihn segnet. Und in diesem Augenblick fällt es Jakob wie Schuppen von den Augen: an Gottes Segen ist alles gelegen! Indem Jakob dem Ort des Kampfes den Namen «Pniel» («Gottes Angesicht» 1. Mo 32.31) gibt, macht er deutlich, dass er wirklich verstanden hat, mit wem er es zu tun hatte.
Der Aufgang der Sonne bringt das nächtliche Geschehen zum Abschluss. In den Psalmen ist das Bild der aufgehenden Sonne auch ein Symbol für die Erneuerung des Lebens, beziehungsweise für Gottes heilvolles Eingreifen. Genau dies durfte Jakob in seinem Kampf am Jabbok auf eindrücklichste Weise erfahren. Nicht das Böse, sondern Gott selbst taucht aus dem Dunkel aus. Es wird Licht.
Gesegnet und gezeichnet
Aus einer solchen Erfahrung geht man aber nicht unbeschädigt hervor. Sie hinterlässt Spuren. Jakob verlässt die Nacht des Kampfes gesegnet, aber auch gezeichnet. Er überlebt, aber die Erinnerung an jene Nacht ist in seinen Körper eingeschrieben. Der hinkende Gang zeugt davon. Aber er ist auch gleichzeitig eine Hilfe, nicht abzuheben. Das Hinken verhindert Triumphmärsche in militärischem Gleichschritt. Es fordert vielmehr zu einem den Möglichkeiten angemessenen Tempo heraus.
In schmerzvoller Weise hat Jakob erfahren müssen, dass sein Verhältnis zu Gott nicht von dem zu seinem Bruder zu trennen ist. Und es ist für mich faszinierend, wie Jakobs Versöhnung mit Esau (1. Mose 33) ein Widerschein der Gottesbegegnung von Pniel ist. Wenn Jakob das Angesicht Esaus so sieht wie das Angesicht Gottes (33,10), dann wird damit deutlich, dass der Konflikt mit Esau auch in den nächtlichen Kampf am Jabbok hineinverwoben war. Der Segen Gottes widerscheint auch im freundlichen Angesicht Esaus. Nicht nur im Namen Israel ist der Segen Gottes offenbar, in der Versöhnung mit Esau ist dieser Segen als Gabe an beide Brüder zu verstehen.
Ringen, um Lasten aus der Vergangenheit loszuwerden
Die Geschichte von Jakobs Ringen mit Gott ist in vieler Hinsicht auch eine ermutigende Geschichte. Einen Aspekt möchte ich in diesem Zusammenhang noch besonders hervorheben: Jakob ist stark genug, diesen Fremden festzuhalten. Wird uns damit nicht gesagt, dass diese Kraft auch in uns schlummert. Wir sind unserem Schicksal nicht einfach ausgeliefert. Wenn wir Gott in unser Ringen mit einbeziehen, wenn wir in diesem Sinne zu «Gotteskämpfern» werden, so wird es möglich, Lasten aus der Vergangenheit abzutragen und Ängste vor der Zukunft loszulassen. So werden wir frei für ein achtsames und sinnerfülltes Leben in der Gegenwart.
Als Psychiater, aber auch in der Seelsorge treffe ich immer wieder Menschen an, die dies nicht mehr glauben können. Sie haben resigniert vor den Herausforderungen und Rätseln ihres Lebens. Sie weichen der Nacht und dem Kampf aus. Und so weichen sie auch dem Ringen mit Gott und letztlich Gott selbst aus. Die Geschichte von Jakobs Ringen mit Gott soll uns immer wieder ermutigen, an Gott festzuhalten, denn darin liegt Segen: «Ich lasse dich nicht los, bevor du mich gesegnet hast».
Dieser Satz berührt mich, und nicht selten fällt er mir auch unabhängig von der Geschichte ein, weil ich die Sehnsucht darin so sehr spüre. Es sind Situationen, in denen ich mich wiederfinde, wenn ich selber – so wie Jakob - vor Übergängen hocke, an Wendepunkten im Leben, in Krisen, wenn ich selber überfallen werde von einer Nachricht, die mich umwirft oder von einer Krankheit. Dann wird irgendwann diese Bitte laut: «Ich lasse dich nicht los, bevor du mich gesegnet hast».
Ringen mit Gott? Altmodisch? Ist diese Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok nicht heute noch topaktuell? Sprechen diese «Glauben-am-Montag»-Geschichten aus der Bibel nicht auch heute noch konkret in all unsere Lebensbereiche hinein? Sie überzeugen mich immer wieder aufs Neue, denn es sind Geschichten über uns, über dich und mich.
Zum Autor
Dr. med. Roland Stettler ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Klinik Sonnenhalde in Riehen. Er ist ausserdem Dozent am Bildungszentrum der Heilsarmee in Basel und im Basler Regionalnetz für die Psychiatrieweiterbildung.
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Quelle: Livenet / Perspektive