Passionsspiele Oberammergau

Ein Jesus, der auch mal auf den Tisch haut

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Frederik Mayet in seiner Rolle als Jesus bei den Passionsspielen Oberammergau (Bild: Instagram)
Frederik Mayet war in diesem Jahr zum zweiten Mal einer der beiden Jesus-Darsteller bei den Passionsspielen in Oberammergau. Wie war es für ihn, 55 Mal am Kreuz zu hängen? Und welche Botschaft ist ihm wichtig geworden?

Von insgesamt 110 Aufführungen der Passionsspiele waren Sie bei 55 Vorstellungen Jesus. Überwiegt die Freude oder die Traurigkeit darüber, dass die Saison vorbei ist?
Frederik Mayet: Es sind schon etliche Tränen geflossen am letzten Wochenende der Spielzeit. Es war ein wunderschönes Jahr – wie man als Dorf zusammengewachsen ist und neue Freunde kennengelernt hat. Ich bin aber auch froh, jetzt wieder etwas mehr Freizeit zu haben und Zeit für die Familie, für Besuche und andere Dinge, die wichtig sind. Wir sind ja seit Januar am Proben gewesen. Das letzte freie Wochenende war im Februar. Man merkt einfach die Erschöpfung, wenn man so viel auf der Bühne gibt. Daher ist es gut, dass ich in den Herbstferien ein paar Tage frei habe.

Wie ist jetzt die Stimmung im Dorf, läuft sofort alles wieder im Normalbetrieb?
Insgesamt ist es im Dorf natürlich ruhiger geworden. Von einem Tag auf den anderen haben wir nicht mehr tausende Menschen hier aus der ganzen Welt. Viele aus dem Ort haben Betriebsferien und sind erst einmal in den Urlaub gefahren. Die Bärte sind ab, die Haare sind kurz. Also auch optisch verändern sich die Oberammergauer ganz schnell wieder. Aber es laufen auch noch ein paar Nacharbeiten. Im Theater werden die Scheinwerfer und die Tontechnik ausgebaut, die Beschilderungen im Dorf werden abgenommen. Wir haben darüber gesprochen, was wir an der Website machen müssen, damit sie für die nächsten Jahre so stehen kann.

Sie haben jetzt nach 2010 zum zweiten Mal Jesus gespielt. Interesse hatten Sie auch an der Rolle des Judas. Warum?
Das ist nach Jesus die spannendste Rolle, finde ich. Judas ist so facettenreich und ambivalent. Er ist ein enger Freund von Jesus, aber er macht dann einen Fehler, mit dem er nicht leben kann, und erhängt sich. Er hat eine andere Vorstellung vom Reich Gottes und dabei reibt er sich an Jesus, will ihn vielleicht auch in eine bestimmte Richtung drängen. Das Bild vom Kreuzestod von Jesus kennt man von klein auf. Aber wenn man dann den Judas am Strick hängen sieht, geht einem das schon ganz tief rein. Mich hat das sehr berührt. Bei uns sagt man, die besten Schauspieler haben mal den Judas gespielt. Aber ich bin natürlich sehr froh, dass ich Jesus spielen durfte.

Die drei Männer am Kreuz sind mit Klettergurten unter dem Lendenschurz gesichert. Wie ist Judas im Spiel gestorben? Für den Zuschauer wirkt es so, als würde er wirklich am Strick hängen.
Keine Angst, das ist gut geprobt. Er hat auch einen Klettergurt unter dem Kostüm und hängt sich mit einem Haken dort ein. Das Seil ist nur mit zwei Nähten ganz leicht verknotet. Auch wenn der Haken nicht funktionieren und Judas da durchrauschen würde, könnte nichts passieren.

Sie sind zur Vorbereitung nach Israel gereist, haben auch die Evangelien gelesen und Filme geschaut. Was hat Ihnen am meisten geholfen, sich auf die Rolle vorzubereiten?
Das Heilige Land zu bereisen und an den heiligen Stätten zu stehen, hat mich total bewegt. Ich war jetzt schon viermal dort. Über den See Genezareth zu schauen, mir vorzustellen, wie ein Wanderprediger mit seinen Leuten durch die Gegend gezogen ist und die Botschaft unters Volk gebracht hat – da habe ich ein Gefühl dafür bekommen, wie es gewesen sein könnte vor 2'000 Jahren, wie sie da am See gesessen und diskutiert haben.
Die unterschiedlichen Jesus-Filme anzuschauen war für mich vor allem deswegen wichtig, weil ich gesehen habe, dass es immer eine Interpretation ist, was man von Jesus zeigt. Jeder Jesus-Film ist anders oder setzt andere Schwerpunkte. Die Evangelien erzählen auch die gleiche Geschichte mit anderen Schwerpunkten. Als Schauspieler muss man seinen eigenen Weg finden, die Geschichte zu erzählen und sein Jesusbild zum Leben erwecken.

Was wollten Sie von Jesus zeigen?
Es ist uns, glaube ich, mit dem Passionsspiel ganz gut gelungen, die Aktualität der Botschaft von Jesus zu zeigen, wenn es um die Nächstenliebe geht, um die Feindesliebe. Und das in einer Welt, wo die Reichen immer reicher werden, die Armen immer ärmer. Wo es Menschen gibt, die auf der Flucht sind, die am Rand der Gesellschaft stehen. Das sind die Themen, die Jesus unter anderem auch angesprochen hat und bei denen er – auch entgegen der herrschenden Hierarchien – versucht hat, das Leben der Menschen im Hier und Jetzt besser zu machen. Er hat ja nicht nur vom Jenseits gesprochen, sondern auch von ganz konkreten Handlungsanweisungen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: Wenn das jeder machen würde, hätten wir paradiesische Zustände.

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Frederik Mayet (Bild: Instagram)
Das Passionsspiel endet mit der Auferstehung. Vorher wird Jesus gekreuzigt. Würden Sie sagen, Jesus war erfolgreich?
Da heute noch so viele Menschen über ihn reden und ihm viele nachfolgen, würde ich schon sagen, er war erfolgreich. Im ersten Moment war er es nicht – er ist am Kreuz elendiglich gestorben. Was danach kam, ist einmalig. Ich kann mir schwer vorstellen, wie die Auferstehung ausgesehen hat und wie Jesus dann aussah. Aber es ist auf jeden Fall eine Geschichte, die bis heute weitergeht und wichtig ist. Und er hat dadurch die Welt eindeutig verändert.

War das eine bewusste Entscheidung im Spiel, dass Jesus bei der Auferstehungsszene nicht noch einmal auf der Bühne steht?
Die Idee hatte der Regisseur Christian Stückl. Aber das war genau der Hintergrund. Er meinte, es wäre komisch, Jesus zu zeigen. Man kann sich davon eigentlich kein Bild machen. Selbst die engsten Freunde haben ihn ja nicht erkannt und es nicht geglaubt. Er hat irgendwie eine andere Form angenommen. Das ist etwas, woran man glauben kann und muss, um die Auferstehung zu verstehen. Das Wichtige für mich ist nach der Auferstehung die Osterbotschaft, die Magdalena verbreitet. Das war für mich auch das schönere Bild am Ende des Passionsspiels: dass Jesus Licht in die Welt gebracht hat.

Wie würden Sie Jesus charakterisieren?
Er war auf jeden Fall ein Kämpfer. Wenn er, wie es die katholische Kirche sagt, ganz Mensch und ganz Gott ist, dann hat er alles Menschliche gekannt. Das heisst, er hat auch alle menschlichen Emotionen in sich. Der Jesus, der mit einem heiligen Zorn auftritt und die Händler aus dem Tempel vertreibt, ist auch einer, der auf den Tisch hauen kann. Trotzdem hatte er natürlich viel Empathie für Menschen, er hatte Freunde und Bekanntschaften und konnte lachen. Bei uns im Passionsspiel hat er eine gewisse Strenge. 2010 hatten wir einen weicheren Jesus. Bei den Proben hat Christian Stückl zu mir gesagt: Weg mit deinem heiligen Ton, Jesus muss härter werden, kräftiger sein, mehr in die Auseinandersetzung gehen. Aber ich glaube, dass die heutige Zeit auch einen Jesus benötigt, der mal auf den Tisch haut.

Haben Sie dadurch selbst noch etwas Neues entdeckt an Jesus?
Es sind einzelne Sätze, die einem bewusster werden. Das lag schon alleine daran, dass wir die Spiele um zwei Jahre verschieben mussten. Wir waren acht Wochen vor der Premiere, im März 2020, als Corona anfing. Jesus sagt etwa «Armut und Krankheit raffen euch dahin». Das hat man halt so gesagt und plötzlich hatte das eine ganz andere Bedeutung – nach zwei Jahren Pandemie, in denen man über Krankheiten gesprochen hat, wo viele auch finanzielle Probleme bekommen haben oder von Armut betroffen sind. Man entdeckt dann an Jesus immer wieder neue Facetten oder Sätze und denkt: Da hat er den richtigen Ton getroffen. Die Probleme, die die Menschen vor 2'000 Jahren hatten, das sind im Wesentlichen die gleichen, die wir heute haben: Es geht um Essen, um Krankheit, um die Armen, um die Reichen, um Ungerechtigkeit.

Was bedeutet Jesus für Sie persönlich?
Als aufrechter, gerechter Mensch durch die Welt zu gehen, der Ungerechtigkeit erkennt und dagegen aufsteht und sich nicht klein machen lässt von Autoritäten und auch für andere einsteht – das können wir von Jesus lernen, unabhängig davon, ob jemand an Jesus glaubt oder nicht. Jeder Mensch hat einen moralischen Kompass in sich. Wenn man sich darauf verlässt, folgt man Jesus in einer gewissen Weise nach und dann kann das Miteinander ein besseres werden. Jesus hat ganz viel vom Hier und Jetzt gesprochen. Von daher glaube ich an die Kraft des Wortes und dann an die Kraft der Botschaft.

Wie wichtig war es im Spiel, den göttlichen Aspekt von Jesus deutlich zu machen?
Jesus war einer, der zu hundert Prozent auf Gott vertraut hat und sich in Gott aufgehoben gefühlt hat. Obwohl er auch schwache Momente hatte wie am Ölberg, wo er sehr verzweifelt und alleine ist und auch an Gott zweifelt und sich von ihm verlassen fühlt. Das zu zeigen, fand ich richtig und wichtig.

Was ist das für ein Gefühl, verspottet zu werden und dann am Kreuz zu hängen – auch wenn es nur im Schauspiel ist?
Das habe ich nicht an mich herangelassen, denn ich weiss ja, dass es nur Theater ist. Die da unten stehen, sind teilweise Freunde von mir. Mit denen stehe ich eine Stunde später, wenn ich vom Kreuz abgenommen bin und unter der Dusche war, hinter der Bühne, wir trinken Bier miteinander und sprechen über den Tag, was hat gut funktioniert, was hat schlecht funktioniert. Und dann habe ich auch wieder Abstand zu der Rolle bekommen.

Sie sind über 20 Minuten lang nur mit Lendenschurz auf der Bühne. Haben Sie sich mal erkältet?
Ich hatte in der Spielzeit eine bakterielle Stimmbandentzündung. So konnte ich mal eine Woche nicht spielen. Und ich war für fünf Tage Corona-positiv. Aber das war nicht so schlimm. Zwei Tage Kopfweh und Schnupfen.

Wie haben es Ihre Kinder aufgenommen, Sie als Jesus am Kreuz hängen zu sehen?
Natürlich waren sie stolz, dass der Papa den Jesus spielt. Mein älterer Sohn war Abendmahlsdiener. Er hat das Brot an den Tisch gebracht. Mit meinem kleinen Sohn, der ist jetzt gerade vier geworden, war ich manchmal im Volk von Jerusalem mit auf der Bühne. Es war total schön, dass wir gemeinsam mitspielen konnten und dadurch einen schönen Sommer zusammen hatten. So wachsen sie auch in die Traditionen des Passionsspiels hinein.

Werden Sie das nächste Mal, in acht Jahren, wieder dabei sein?
Auf jeden Fall. Aber nicht als Jesus. Dafür bin ich dann zu alt. Für Judas wahrscheinlich auch. Dass ich jetzt zweimal den Jesus spielen durfte, dafür empfinde ich eine grosse Dankbarkeit und daher ist es mir auch egal, welche Rolle in acht Jahren für mich rausspringt. Ich freue mich schon drauf.

Die Passionsspiele in Oberammergau gehen auf ein Gelübde zurück, das die Bürger des Ortes im Jahre 1633 gaben: Wenn Gott das Sterben durch die Pest beenden würde, wollten sie alle zehn Jahre die Passionsgeschichte darbieten. Dieses Jahr wurde die Passion zum 42. Mal aufgeführt. Premiere war am 14. Mai, die letzte Vorstellung lief am 2. Oktober. Die Auslastung lag nach Angaben der Veranstalter mit mehr als 412'000 verkauften Tickets bei mehr als 91 Prozent. Insgesamt wirkten 1'769 Personen an den Spielen mit. Die Hauptrollen sind doppelt besetzt. Mitspielen darf nur, wer in Oberammergau geboren wurde oder seit mindestens zwanzig Jahren dort lebt. Ursprünglich sollten die Passionsspiele bereits 2020 stattfinden, mussten aber wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. Die nächste Spielzeit ist für 2030 geplant.

Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin

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Datum: 17.10.2022
Autor: Jonathan Steinert
Quelle: PRO Medienmagazin

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