Eine Streitschrift

Worseship - Erbarmen mit der Gemeinde!

Es muss mal raus. «Worship» gehört ja zur evangelikalen Liturgie und hat weitgehend das «Lieder singen» ersetzt (das wäre ein Thema für sich). Aber was ich in den letzten Jahren an manchen Orten beobachte, scheint mir ein Niedergang gemeindlicher Gottesdienstkultur zu sein. Ein streitbarer Kommentar von Reinhold Scharnowski, der selbst seit vielen Jahren Lobpreis leitet.

Zoom
Die ICF-Worship-Band in Aktion mit Songs aus ihrem neuen Album «Catching Fire» an der ICF Conference 2014
«Ich habe es aufgegeben, etwas zu sagen. Es ändert nichts», sagte mir eine Frau mittleren Alters – tragendes (und zahlendes) Mitglied einer grösseren Gemeinde. Es ging um die sonntägliche Worshipzeit. Was sie mir anvertraute, deckt sich weitgehend mit meinen eigenen Beobachtungen - nicht so sehr in Jugendkirchen, sondern in den normalen Multigenerations-Freikirchen landauf landab.

Bevor jemand das Folgende in den falschen Hals kriegt, hier das Kleingedruckte: ich freue mich, dass viele junge Leute in der Gemeinde Musik machen und zunehmend junge Bands den Worship leiten. Ich rede hier nicht als älterer Mensch, dem die Worshipkultur fremd ist und der am liebsten zu Strophenliedern zurück will. Seit fast 40 Jahren leite ich selbst Worship – nach wie vor be-«geistert».

Es wäre auch ein Grund zur Freude, dass viel in Schweizerdeutsch statt, wie eine Zeitlang, nur englisch gesungen wird. Und: gute Lieder darf man auch ruhig dreimal wiederholen.

Tabu Worship?

Aber es geht um etwas Tieferes – um Tabus, die man in vielen christlichen Kreisen nicht ansprechen darf, weil sich garantiert irgendjemand verletzt fühlt und weil natürlich garantiert irgendjemand dagegenhält: «Mich hat es aber gesegnet.»

Worship ist eine Grauzone der Diskussion. Kritik wird schnell als Dämpfen des Heiligen Geistes aufgefasst; sie kommt so grad nach der Bibelkritik. Darum hier ganz klar: Es geht mir überhaupt nicht um eine Pauschal-Kritik. Aber es geht um die Gemeinde und die Qualität von Gottesdiensten, darum scheint mir eine Diskussion nötig. Und ich wünsche mir, dass der Heilige Geist mehr, nicht weniger zum Zuge kommt. Darum schreibe ich diesen Kommentar.

Ich gruppiere meine Anfragen in drei Themenbereiche und tippe nur an - Selberweiterdenken ist erlaubt:

1. Qualität der Songs - wer soll das singen?

Früher hat man singbare englische Lieder gesungen. Heute singt man häufig schweizerdeutsche Lieder, von denen viele unsingbar sind – gelinde gesagt.

Die Melodien gehen rauf und runter, scheinbar unmotiviert; waghalsige Sprünge fordern selbst musikalische Leute. Keine Ahnung von elementaren Kompositions-Regeln. Bestenfalls sind viele Songs langweilig. Man hat öfter den Eindruck, dass sich da einer eine Melodie abgezwängt hat.

Texte? Es muss ja nicht gerade Gotthelf oder Mani Matter sein, aber warum – um Gottes willen – kann man nicht Texte unter die Leute bringen, die einigermassen Qualität haben – theologisch und sprachlich? Und weiter: alle beklagen den christlichen Individualismus; könnte man nicht mal bei Liedern wieder anfangen, die oft unsägliche fromme Bauchschau und Ich-Fixierung zu durchbrechen? Worship ist doch mehr als «Ich und mein Gefühl und Jesus»!

2. Wer singt eigentlich mit?

Nochmal: Toll, dass viele junge Christen Worship machen. Aber: Wer coacht sie? Letzthin war ich in einem Riesen-Gottesdienst mit fast 1'500 Leuten. Während der Worshipzeit wagte ich, die Augen aufzumachen und um mich rumzuschauen. Meine Schätzung: ein Viertel sang – mehr oder weniger herzhaft – mit. Der Rest schwieg, bewegte irgendwie die Lippen, summte, betete – man kannte die Songs einfach nicht! Und es waren auch keine Lieder, die eingängig waren, so dass man man ab der zweiten Strophe hätte mitsingen können (wenn es eine zweite Strophe gegeben hätte). Grund: Siehe Punkt 1.

Wo sind Gemeinden, die es wagen, mitten in eine Worship-Zeit mal ein altes Evangeliums- oder sogar Kirchenlied einzuflechten, etwas mit vielleicht älterer Sprache, aber dafür tiefem Inhalt? Man kann auch «Stern, auf den ich schaue» mit der Band spielen, und wie! Von den inhaltsreichen (mittlerweile ebenfalls) Klassikern von Peter Strauch oder Manfred Siebald ganz zu schweigen .... 

Ein anderer Punkt sind die Männer. Ich gehe oft in Worshipzeiten nach hinten und gucke mir die Leute von hinten oder von der Seite an. Sehr oft beobachte ich: Frauen singen mit Inbrunst, Männer kaum oder gar nicht. Männer können singen! Aber viele Worship-Texte sind – Achtung, Tabu! – sehr feminin. Sie singen von Gefühlen und Emotionen, die eher die weibliche Seite ansprechen: Geborgenheit, auf dem Schoss sitzen, Liebe in emotionalen Tönen. Das darf ja mal vorkommen, aber wenn es dominiert, werden die Männer ausgeschlossen. Man komme mir jetzt nicht mit «die Männer müssen das halt lernen». Einige der besten Worship-Zeiten, die ich erlebt habe, waren reine Männer-Treffen. Aber das waren kräftige Songs, die nicht nur Emotionen ausdrückten, sondern auch Stärke, Kraft, Hoheit Gottes, Kampf und jubelnde Freude. Wenn ein Lied singbar ist und Kraft hat, singen Männer mit. Wetten?

3.  Selbstverständnis und Gemeindekultur - was ist eigentlich ein Gottesdienst?

Ich bin der Meinung, dass die Worship-Zeit nicht nur ein Selbst-Ausdruck der Worship-Gruppe und ihres Leiters ist. Es gehört zur Gottesdienstplanung und -kultur, dass sie nicht nur «eine halbe Stunde kriegen», sondern die Zeit muss irgendwie auch durchgesprochen werden. Wenn die Leiter oder Ältesten der Gemeinde merken, dass die Beteiligung beim Singen schwach ist und viel Unbekanntes oder schwer Singbares gesungen wird, dann muss darüber geredet werden. Die Worship-Band dient der Gemeinde und nicht umgekehrt. Als Faustregel müssten meiner Meinung nach mindestens zwei Drittel Lieder gesungen werden, die bekannt sind, die von der ganzen Gemeinde vertreten werden und so möglichst alle in die Anbetung Gottes führen. Im letzten Drittel kann man dann Neues lernen. Wie wäre es übrigens, mit der Gemeinde mal die neuen Lieder ein bisschen zu üben?

Natürlich, Geschmäcker sind verschieden, und keiner kann es allen recht machen, das weiss ich auch. Aber eine Zeit der Anbetung Gottes ist zu schade, um sie mit innerem Frust über sich ergehen zu lassen, nach dem Motto: «Hoffentlich kommt bald die Predigt!»

Hier ein Kompliment an die ältere Generation. Früher waren es die Jungen, die unter alten Liedern litten. Heute hält oft – nein, nicht immer, aber oft! – eine ältere Generation mit erstaunlicher Geduld evangelikalen Jugendkult aus. Redet zusammen, arbeitet daran! Worship ist keine heilige Kuh, da darf man drüber reden. Um Gottes willen! Denn es ist Seine Gemeinde. Ich bin überzeugt, dass viele Worship-Leiter hier mit sich reden lassen würden, denn auch sie haben ja kein Interesse, wenn kaum einer mitsingt, oder?

Zum Thema:
«Was ist Worship?» von Silas Bitterli auf easyfisch's Videoblog
Hymnen-Album der «Newsboys»: «Die Lieder stammen aus schweren Zeiten»
Lobpreis: Die Geschichte zu «Heart of Worship»

Datum: 11.02.2015
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet

Kommentare

Das Foto sagt schon Alles: Hier "kurbelt" eine, in Bühnenlichtzauber getauchte Worshipformation, eine ins Dämmerlicht getauchte träge Masse von Versammlungs(= Gottesdienst-)teilnehmern zum "Worshippen", Anbeten an. Aber, wer eigentlich angebetet wird, kommt da nicht vor. Es sollte ja Gott, der christliche, sein. Gleichzeitig, ist da eine Scheidung, welche es auch schon in der alten Kirche zwischen Ordensleuten und Volk gab; die Berufenen und Ordensbrüder sangen im Hochchor und das Volk blieb im Kirchenschiff, verblieb aber natürlich immer noch in der Tradition ganzen Kirche. Die Anbetungshaltung war immer streng auf den Dreifaltigen Gott bezogen und Heilige dienten nur zur Verstär
Ein guter Beitrag, dem ich größtenteils zustimmen kann. Allerdings tue ich mich mit dem Argument (das ich sehr oft höre und selber noch vor zwei Wochen so gesehen habe), dass Männer oft nicht mitsingen, weil die Texte zu feminin seien, sehr schwer. Zum Einen klingt die Aussage recht sexistisch, als ob Männer keine Gefühle haben, bzw. diese nicht ausdrücken oder dabei auf keinen Fall Bilder wie Liebe, Umarmung, oder Geborgenheit verwenden dürfen/können. Als ich letzte Woche im Stadion war, ist mir aufgefallen, wie viele Männer Woche für Woche lauthals singen und ihren Emotionen freien Lauf lassen, weil sie ihren Verein so sehr lieben.
Dieser Artikel spricht mir aus dem Herzen. Ich habe mich mit den Worship- Formen "abgefunden" und will einen Gottesdienst nicht allein daran messen. Die neuen Lieder stören mich eigentlich nicht, aber sie sind oft "schmalspurig". Dazu wären Lieder mit fundiertem Inhalt, ob neu oder alt, eine sinnvolle Ergänzung. Leider werden die Lieder nur mit Text und ohne Noten aus dem Beamer gezeigt. Die teils unmöglichen Melodien sind ein weiterer Stolperstein, dass nicht besser mitgesungen wird. Ich habe im Internet nach Notenprogrammen gesucht. Es gibt sie, aber keines ist so richtig praktisch und bedienerfreundlich, dass Text und Noten in einfacher Weise produziert werden können.
Ich habe in den letzten 20 Jahren regelmässig Worship geleitet und finde es ein Vorrecht, gemeinsam als Gemeinde Gott anzubeten. Mehr und mehr empfinde ich aber, dass der Standartmix aus Begrüssung, Worship, Predigt mit viel mehr Elementen ergänzt werden sollte. Gebet in Gruppen, Krankengebet, Kreativbeiträge, prophetische Eindrücke, Zeugnisse etc.
Ein guter Mix von neuen und gut bekannten Liedern finde ich ideal, damit man von Herzen mitsingen kann. Neben der eher schwierigen Rhythmik manch neuer Songs, werden oft die Tonlagen von Worship-Profis übernommen. Da kann man dann entweder eine Oktave tiefer mitbrummen oder zuhören.
Ich kann Ihren Artikel sehr gut nachvollziehen. Ich bin 42 Jahre alt (w) und singe leidenschaftlich gerne und leite ein Musikteam in unserer Gemeinde. Allerdings habe ich persönlic wirklich teilweise sehr große Schwierigkeiten mit "flachen" Texten. Daher bauen wir auch sehr sehr gerne alte Lieder, z.B. Paul Gerhardt, etc. in den Gottesdienst mit Band ein. Herzliche Grüße
Ich kann viele ihrer Punkte nachvollziehen, auch wenn ihr Schreibstil etwas angriffig ist, in meinen Augen. Als junger Musiker und lernender Liederschreiber fühle ich mich leicht angegriffen vorallem bei Punkt 1. Unsere Gemeinde zum Beispiel fördert eigene Lieder eigentlich nicht. Die die es dennoch tun, sind grundsätzlich auf sich gestellt und müssen sich das ganze Wissen (Komposition, Texte) ...
...ist und was ich beachten muss. Vielleicht kommt der Pastor auf mich zu und gibt einen Input zum theologischen Aspekt. Fürs nächste Mal weiss ich, dass ich auch im Voraus den Pastor anfragen kann für eine Beurteilung. So lernt man. Wenn man dies unterbindet, wird es keine neuen Liederschreiber geben. Keine Rückmeldungen geben, weil Worship=Heilige Kuh, ist aber wie sie sagen auch falsch.
... selbst aneignen, also externe Seminare besuchen etc. Teilweise wurden schon solche Seminar-Besuche finanziell unterstützt, was man eigentlich doch auch als Unterstützung anrechnen darf. Dass eigene Lieder nicht unterstützt werden, stimmt also nicht ganz. Ich muss aber trotzdem Erfahrungen sammeln, Lieder in der Gemeinde einbringen und merken, was funktioniert, wo noch Potential oder Beda
Hallo, Simeon, natürlich will ich niemanden entmutigen, eigene Lieder zu schreiben - ich find das toll! Aber sie müssen ja auch singbar sein - ich würde sehr empfehlen, sie mit einem Musiker und einem, der was von Texten versteht, durchzustrählen und es vielleicht auch zuerst in einer kleinen Gruppe zu üben, ob es singbar ist.

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