Herausforderung «Psyche»
Wenn die «Alles-ist-machbar-Vorstellung» ein Ende findet
Die Menschheit ist herausgefordert. Zunehmend viele sind sogar überfordert. Dr. med. Albert Seiler, Chefarzt der SGM-Klinik Langenthal, nimmt im Livenet-Interview Stellung zu den aktuellen Herausforderungen.Die SGM-Klinik Langenthal ist eine Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Livenet hatte das Vorrecht, Chefarzt Dr. med. Albert Seiler inmitten der hektischen Zeit für ein Interview gewinnen zu können.
Livenet: Wie erleben Sie die aktuelle Situation rund um die Corona-Pandemie?
Dr. med. Albert Seiler: Experten rechnen damit,
dass in unseren Ländern mehr als die Hälfte der Menschen infiziert wird, einige
davon mit schweren Verläufen oder Todesfolge. Sehr viele Menschen verfolgen
gebannt die Corona-Statistiken und Einschätzungen der Experten. Andere beschäftigen
sich mit weniger fundierten Theorien und Gedanken rund um die Pandemie. Doch
eines ist allgegenwärtig: Verunsicherung und Angst. In manchen Momenten scheint
es mir, als hätten wir es mit einer Doppel-Pandemie zu tun: Mit einer rasanten
Ausbreitung sowohl von «Corona» als auch von «Angst».
Mit der Pandemie zeigen sich auch psychische
Probleme?
Unser Alltag und das Sozialleben haben sich fast
schlagartig und radikal verändert. Die Restriktionen von Kontakten schränken
zwar massiv ein, werden jedoch von den allermeisten Menschen akzeptiert. Darin
zeigt sich nicht nur die menschliche Anpassungsfähigkeit, sondern auch die
Anpassungswilligkeit. Es darf nicht übersehen werden, dass solche
einschneidende Veränderungen den Einzelnen viel Kraft kosten. Einige Menschen
kommen dabei schneller an die Grenzen ihrer Belastbarkeit als andere. Wo die
Schwelle des Erträglichen für jeden einzelnen Menschen liegt, hängt nicht nur
von der individuellen Persönlichkeit ab, sondern auch von weiteren Faktoren im
Leben der Person. Die Corona-Krise ist nun ein zusätzlicher gewaltiger Stressfaktor.
Er führt dazu, dass für viele Menschen die Grenze des Tragbaren überschritten
wird und psychische Probleme zu Tage treten. Experten befürchten, dass jeder
Fünfte davon betroffen sein wird.
Was macht die derzeitige Lage besonders
schwierig?
Menschen
sind Gemeinschaftswesen. Mit der nun geforderten sozialen Distanz brechen
soziale Räume weg – Gestaltungs-, Begegnungs-, Schutz- oder Ausweichräume.
Viele Personen sind auf sich selbst gestellt oder auf ein enges Lebensumfeld
eingegrenzt. Erkrankungen in der Nachbarschaft oder im Bekannten- und
Familienkreis müssen verkraftet werden. Hinzu kommen finanzielle oder sogar
existenzielle Probleme, Zukunftssorgen und mehr. Das alles verstärkt sich
gegenseitig. Im engen Raum der eigenen Wohnung können wachsende Spannungen zu
Gewalt gegenüber engen Bezugspersonen führen und Suchtverhalten kann sich
verstärken.
Soziale Einrichtungen, Schulen oder Kindertagesstätten, Tafelläden, Unterstützungs- und Hilfsangebote wären da dringend notwendig. Diese sind jedoch geschlossen oder funktionieren nur noch sehr eingeschränkt.
Ist
Hilfe in Sicht?
Trotz
Ausgangsbeschränkungen sind viele Berater, Seelsorger oder Therapeuten erreichbar.
Über Online-Kanäle oder telemedizinische Konsultationen sind Unterstützung,
Begleitung und fachliche Hilfen verfügbar. Gute Arbeit wird geleistet – wenn
auch nicht von Angesicht zu Angesicht. Viele Personen, Gruppen, Vereine,
soziale Institutionen oder Kirchen nutzen das Telefon und Online-Möglichkeiten
oder sie organisieren konkrete nachbarschaftliche Hilfen. Diese, bisher nicht
gelebten Formen des Miteinanders – trotz sozialer Distanz – machen mir Mut in
der Krise.
Was
raten Sie dem Einzelnen in solch harten Zeiten?
Unsere
Gesellschaft erlebt gerade eine Grenze des «Machbaren». Auch ich hoffe auf
technologische Durchbrüche bei der Impfstoff- und Medikamentenentwicklung. Doch
stellt sich für mich nicht nur die Frage nach Hilfen von Wissenschaft, Technik,
Wirtschaft oder Politik. Für noch wichtiger sehe ich die innere Haltung in der
Krise. Ich möchte sie mit den vier Buchstaben S-O-F-T zusammenfassen:
S = Struktur:
«Struktur» für unersetzlich. Die «Helden der Not» in Gesundheitswesen, Ordnungsdiensten oder Lebensmittelgeschäften sind bis über ihre Grenzen beschäftigt. Für andere Menschen sind gewohnte Strukturen weggebrochen: Beruf, Ausbildung und mehr. Wenn Arbeit und Freizeitprogramme als Strukturgeber wegfallen, müssen wir neue Tages- und Wochenstrukturen geschaffen werden. Diese geben eine notwendige Stabilität, gerade in Zeiten der Unsicherheit.
O = Orientierung:
Wohin richte ich meinen Blick: Auf die Quote der Infizierten oder auf die Kurve der Geheilten? Führen meine Gedanken zu Verzweiflung, oder mache ich mich angesichts von Unsicherheiten und Ängsten auf die Suche nach Frieden, Zuversicht und Freude?
Ich selbst erfahre in der Beziehung zum lebendigen Gott, dem Schöpfer des Universums, Trost, Ermutigung und Zuversicht. Dies schenkt Stabilität und hilft, in dieser Krisenzeit mit anderen Menschen zu leben.
F = Fragen:
Ich stelle mir die Frage, was ich in dieser Krise helfend beitragen kann? Welchen Personen könnte ich zur Seite stehen? Für wen könnte ich beten? Wem könnte ich zuhören? Wen könnte ich ermutigen?
T = Tätig werden:
Fragen, wie die hier gestellten, bringen den Fokus weg von mir selbst und befreien von Problemzentriertheit. Stattdessen beschäftige ich mich mit Möglichkeiten und Tätigkeiten. Ich verharre nicht in einer bedrohlichen Situation, sondern werde tätig und trage meinen kleinen Teil dazu bei, das kaum Erträgliche etwas erträglicher zu machen.
Sehen Sie Chancen in der Krise?
Krisen
bewirken Veränderung. So sehe ich in den Herausforderungen der aktuellen
Situation die Chance, dass Miteinander und Solidarität zunehmen (selbst wenn in
einigen Situationen ein unheilvoller Egoismus sichtbar wird). Eine zweite
Chance sehe ich darin, dass sich unsere Massstäbe verschieben. Alltägliche «Wichtigkeiten»
verblassen angesichts der Corona-Welle und geben den Blick frei auf wichtigere
oder wirklich wichtige Fragen. Unsere Hochkultur lebte bisher mit der Vorstellung
«alles ist machbar». Nun erleben wir unzählige «Nicht-Machbarkeiten» und
Grenzerfahrungen. In einem Bild gesprochen könnte das heissen: Auch wenn wir
gegen eine Mauer laufen, ist der Blick nach oben frei.
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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet