Willkommen in der Minderheit
Wie Kirche wieder Kirche werden kann
«Wir werden zwar immer weniger, aber irgendwie sind wir immer noch die Mehrheit und keiner kommt an uns vorbei.» Gedanken wie diese verströmen eher Verzweiflung als Optimismus, dabei kann Kirche durchaus Zukunft haben. – Ein Kommentar.
«Kirchenaustrittsrekord» titelte vor wenigen Tagen die WELT, als die katholische Kirche bekanntgab, dass im Jahr 2021 in Deutschland 360'000 Menschen ihrer Kirche den Rücken kehrten. Ähnlich dramatische Zahlen hatten die evangelischen Kirchen bereits im März vorgelegt: Sie hatten im vergangenen Jahr 280'000 Austritte zu verzeichnen. Damit gibt es in Deutschland zum ersten Mal de facto weniger Kirchenmitglieder als Nicht-Mitglieder. «Es ist eine historische Zäsur, da es im Ganzen gesehen seit Jahrhunderten das erste Mal in Deutschland nicht mehr 'normal' ist, Kirchenmitglied zu sein», meinte denn auch Carsten Frerk von der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland laut ntv. Fast amüsant wirkt es da, wie einzelne kirchliche Medien vorrechnen, dass mithilfe der orthodoxen Kirchen und diverser Freikirchen die Mehrheit noch nicht verloren sei, doch der Trend bleibt mehr als dramatisch.
Und nun? «Wir müssen uns neu erklären, erläutern, was wir tun und warum wir es machen», beeilte sich der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, zu erklären – und zeigte damit wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen, dass er Teil des Problems und nicht seiner Lösung ist.
Kirche ist Kirche, wenn sie ehrlich wird.
Es wird höchste Zeit, dass die Kirchen endlich ehrlich mit sich selbst und mit den Menschen werden, die zu ihnen gehören oder auch nicht mehr. Rechenspiele über eine verlangsamte Erosion der Mitgliedszahlen oder eine immer noch gefühlte Mehrheitsposition in der Gesellschaft interessieren doch niemanden. Warum schaffen es die Kirchen nicht, ihr positives Engagement offen und ehrlich darzustellen? Warum tun sie sich noch schwerer damit, endlich kirchlichen Opfern ihre Würde zurückzugeben? Missbrauchsopfern Statistiken vorzuhalten, nachdem sexualisierte Gewalt in Kirchen gar nicht besonders häufig wäre, ist genauso unangebracht, wie den Flutgeschädigten im Ahrtal im Westen Deutschlands zu erklären: «Es war ja nur Wasser…»
Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.
Dietrich Bonhoeffer prägte diesen Gedanken und unterstrich damit, dass Kirche eine Aufgabe hat und braucht. Selbstverwaltung und das Drehen um innere Angelegenheiten gehören nicht dazu. Und der von Pfarrern gern angeführte Theologe fuhr provokativ fort – dieser Teil wird selten zitiert: «Die Pfarrer müssen ausschliesslich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben. Sie [die Kirche] muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend…» Gute Idee!
Kirche ist Kirche, wenn sie missioniert.
Zugegeben, Mission ist inzwischen fast ein Unwort, doch eigentlich ist es nichts anderes als ein natürliches Reden von dem, was einen begeistert. Problematisch wird es nur, wenn die eigene fehlende Begeisterung mit Druck für andere ausgeglichen werden soll. Eine Kirche, die nicht missioniert, kann nur ihr eigenes Schrumpfen verwalten; Wachstum ist nur möglich, wenn man andere gewinnt. Und damit ist nicht das Transferwachstum gemeint, das einige hippe Freikirchen verzeichnen, die anziehend auf Christen aus anderen Kirchen wirken.
Kirche ist Kirche, wenn sie lebt.
Bei viel zu vielen Diskussionen über die Zukunft der Kirche geht es um das Amtsverständnis ihrer Würdenträger, um ihren Immobilienbesitz und die prognostizierten Kirchensteuereinnahmen. Dabei geht es bei echter Kirche nur ganz am Rande um die Institution. Kirche ist laut Paulus «ein Leib in Christus» (Römer, Kapitel 12, Vers 5) – und wird davon bestimmt, dass sie lebt. Ob in diesem Sinne Hoffnung für in ihren Strukturen verkrustete Landeskirchen besteht, ist schwer zu beurteilen. Die Kirche selbst ist unkaputtbar – sie lebt, weil Christus lebt.
Zum Thema:
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet