Jugendarbeit nach Pandemie
«Nach Corona intensiv in nächste Generation investieren»
Viele Jugendliche leben coronabedingt in einer digitalen Parallelwelt. Die Theologin Judith Hildebrandt sieht daher Herausforderungen für die christliche Kinder- und Jugendarbeit nach der Pandemie. Chancen bieten sich, wenn Gemeinden auf die geänderten Bedingungen reagieren.
Sie forschen über Kinder- und Jugendarbeit in Gemeinden. Was hat die Pandemie, was hat der Lockdown in dem Bereich bewirkt?
Judith
Hildebrandt: Durch den Lockdown sind viele Gruppenstunden, Sommerlager,
Freizeiten und Grossveranstaltungen für Kinder und Jugendliche
ausgefallen. Seit über einem Jahr können keine klassischen Kinder- und
Jugendveranstaltungen, Worshipgottesdienste und anderes stattfinden. Wir
wissen jetzt schon, dass zum Beispiel viele Jungscharen den Lockdown
nicht überlebt haben. Dies bedeutet, dass Kindern und Jugendlichen
wichtige glaubensfördernde Momente genommen wurden.
Ausserdem
zeigen Studien, dass die Generation, die mit dem Smartphone in der
Hosentasche aufgewachsen ist, im Lockdown noch mehr Zeit mit digitalen
Medien verbracht hat. Die Generation Z ist also noch mehr im Internet
unterwegs, das Leben noch mehr ins Netz verlagert. Wer daheim Kinder
hat, kann das leicht sehen. Schule, Freundschaften, Cliquen – alles hat
sich ins Netz verlagert und findet jetzt in Form von Zoom-Meetings,
WhatsApp-Gruppen und Instagram-Videos statt. Zum realen Leben hat sich
eine digitale Parallelwelt aufgebaut. Auch Gemeinden haben ihre
Gottesdienste online angeboten. Damit überhaupt Kinder erreicht werden
konnten, musste auch die Kinder- und Jugendarbeit ins Internet verlagert
werden. Die klassischen Formen von Kinder- und Jugendarbeit haben
vielerorts einen Zusammenbruch erlebt. Neue, digitale Angebote können
aber die echte Begegnung nicht wirklich ersetzen. Auch hat sich bei
Jugendlichen mittlerweile eine «Online-Müdigkeit» eingeschlichen, sodass
wir feststellen müssen: Der Lockdown hat eine Krise der Kinder- und
Jugendarbeit bewirkt.
WhatsApp, YouTube, Instagram und Co. …
…
servieren vor allem digitale Häppchen. Die Art und Weise der
Wissensaufnahme und damit auch die Verarbeitung und Rezeption von Texten
hat sich durch die digitalen Medien bereits verändert. Das muss man
wissen. Für Kinder- und Jugendarbeit in christlichen Gemeinden, beim
christlichen Glauben überhaupt, der sich ja vor allem aus Texten speist,
müssen wir davon ausgehen, dass er schwerer zu vermitteln sein wird.
Die Jugendlichen sind immer weniger darauf trainiert, längere – oder
kompliziertere – Texte zu lesen und dann zu verarbeiten. Sie sind darauf
getrimmt, Texte schnell zu überfliegen, ohne dabei in die Tiefe zu
gehen und zu wissen, wo man welche Informationen schnell findet. In den
digitalen Medien ist der Grad der Ablenkung und die Geschwindigkeit der
Szenenwechsel enorm hoch. Es dauert einen Bruchteil einer Sekunde, einen
kurzen Wisch über das Display des Smartphones. Auf diese Veränderungen
müssen sich Gemeinden in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in
Zukunft einstellen.
Kann der Glaube Jugendlichen helfen, die Pandemie zu meistern?
Wir
wissen aus einer Studie von Hurrelmann und Schnetzer: Die stark
gläubigen Jugendlichen gehen unbeschadeter, weil optimistischer und
entspannter, durch die Krise. Also ja, der Glaube hilft bei der
Bewältigung von Krisensituationen, auch im Lockdown der Pandemie.
Religion bietet also Möglichkeiten, gelassener mit der momentanen Krise
umzugehen. Wir können also sagen, dass ein starker Glaube in Zeiten
einer Krise resilienzfördernd wirkt. Gerade die Bibel liefert gute
Hilfestellungen, um in schweren Zeiten trotzdem Gott zu vertrauen.
Was können Gemeinden aus Corona für die Zukunft der Kinder- und Jugendarbeit lernen?
Dass
sich die Zeiten geändert haben. Kinder und Jugendliche finden nicht
automatisch zum Glauben oder ihren Platz in der Gemeinde – schon gar
nicht in einem säkularen Umfeld unter den Bedingungen einer Pandemie.
Der Lockdown hat gezeigt: Nur wo persönliche Beziehungen und
Identifikation besteht, nehmen Kinder und Jugendliche weiterhin an
Angeboten teil. Gemeinden sind herausgefordert, intensiv in die nächste
Generation zu investieren. Der Lockdown ist also auch eine Chance für
Gemeinden, neue Wege zu gehen und sich ganz neu mit der Frage zu
beschäftigen, wie Kinder- und Jugendarbeit in der heutigen Zeit gelingen
kann.
Wie kann Kinder- und Jugendarbeit in Extremsituationen – wie jetzt in der Pandemie – weiterhin gelingen?
Indem
man Abstand nimmt von einem programmorientierten Ansatz, hin zu einem
evangeliumszentrierten Ansatz. Mitarbeiter müssen begreifen, dass es
nicht in erster Linie darum geht, eine schöne Gruppenstunde zu
gestalten, sondern darum, Kindern und Jugendlichen das Evangelium zu
verkünden. Und keine äusseren Umstände – auch keine Pandemie – sollte das
verhindern. Dazu braucht es Mitarbeiter, die selbst im Glauben
gefestigt sind und Christus als Lebensmittelpunkt haben. Es braucht
Mitarbeiter, die die inneren Ressourcen besitzen, sich auch im Lockdown
durch verschiedene, auch digitale Medien mit «ihren» Kindern und
Jugendlichen zu vernetzen, sie im Glauben zu fördern und wertschätzende
tragende Gemeinschaft zu initiieren.
Ausserdem scheint mir ein
neuer Fokus auf Familien wichtig. Schon seit einigen Jahren gewinnt die
Familie für Jugendliche immer mehr Bedeutung – auch bis in das junge
Erwachsenenalter hinein. Durch den Lockdown wurde diese Entwicklung noch
einmal verstärkt. In Zukunft scheint es wichtig, Eltern zu helfen, ihre
geistliche Verantwortung für ihre Kinder gut wahrzunehmen.
Haben sich die Corona-Massnahmen auf die Psyche der Kinder ausgewirkt?
Ja,
und zwar sehr deutlich. Mittlerweile gibt es viele Studien, welche die
psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während des Lockdowns
im Blick haben. Auch wenn viele Kinder es toll fanden, mit der Familie –
besonders mit den Vätern – viel Zeit zu verbringen, so ist der Anstieg der psychischen Auffälligkeiten
bei Kindern und Jugendlichen doch enorm. Zum einen haben die psychisch
ernsthaften Erkrankungen zugenommen, aber es gibt auch einen ganz
allgemeinen Anstieg der psychischen Auffälligkeiten, der erst im Laufe
des Lockdowns immer mehr deutlich wurde: Eine Studie geht davon aus,
dass vor der Pandemie bei jedem fünften Kind psychische Auffälligkeiten
zu erkennen waren. Heute geht man davon aus, dass das bei einem Drittel
der Kinder der Fall ist.
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Autor: Norbert Schäfer
Quelle: PRO Medienmagazin