Der neue Kyros?

Das Dilemma der weissen US-Evangelikalen

Pauschal kritisieren hiesige Medien «die Evangelikalen» in den USA als Unterstützer von Präsident Trump. Dass sie ihn trotz seinen grossen Makeln gewählt haben, ist auf den ersten Blick schwer verständlich, bei näherem Hinsehen aber nachvollziehbar. Ein Kommentar von Fritz Imhof.

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Stephan Bierling
Stephan Bierling ist Professor für internationale Politik mit Schwerpunkt atlantische Beziehungen an der Universität Regensburg. Kürzlich hat er ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: «America First. Donald Trump im Weissen Haus. Eine Bilanz». Darin listet er auf, was die Evangelikalen dem Präsidenten verdanken, sodass sie ihn trotz seiner pathologischen Persönlichkeit wiederum gewählt haben.

Konservative Richter

Bierling macht deutlich, dass Trump wesentlich mehr Wünsche der weissen Evangelikalen erfüllt hat, als sie sich erhoffen konnten. Zwar ist es auch Trump nicht gelungen, das liberale Abtreibungsrecht zu ändern, aber er hat dafür gesorgt, dass dies demnächst geschehen könnte, indem er bewirkte, dass es heute am Supreme Court eine komfortable konservative Mehrheit gibt. Bereits 2018 konnte er mit der Berufung von Brett Kavanaugh dem Obersten Gericht zu einer konservativen Mehrheit verhelfen. Sie wird auf lange Sicht die Rechtsprechung in den USA dominieren. 2000 hat das Oberste Gericht sogar die Präsidentschaftswahlen (für Bush – gegen Gore) entschieden. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis das Abtreibungsrecht national verschärft wird.

Prolife-Präsident

Bei den zuletzt eingesetzten Richterinnen und Richtern entschied vor allem die politische Gesinnung. Zudem setzte Trump während seiner Amtszeit rund 200 (von 870) neue Bezirks- und Berufungsrichter ein. Durch die konservative Mehrheit am Obersten Gericht ermutigt, verabschiedeten neun von Republikanern dominierte Staaten strenge Anti-Abtreibungsgesetze. In Alabama zum Beispiel ist eine Abtreibung nur möglich, wenn das Leben der Mutter ernsthaft gefährdet ist.

Seit 2018 dürfen sich Arbeitgeber in den USA aus religiösen Gründen weigern, Massnahmen zur «Geburtenkontrolle» zu finanzieren, wie von Obamacare vorgeschrieben. Seit 2019 wird Organisationen, die vom Bund Geld erhalten, verboten, Abtreibungen vorzunehmen oder zu empfehlen. Dafür erhielt die Beratungsstelle Obria, welche zur Verhütung die Knaus-Ogino-Methode empfiehlt, einen Zuschuss von 1.7 Mio. Dollar. Im Januar 2020 trat Trump an der Prolife-Demo in Washington auf.

Frommer Vize

Mit der Berufung eines evangelikalen Vizepräsidenten hat sich Trump zusätzlich Sympathien bei Christen geholt. Pence hatte als Gouverneur von Indiana das Abtreibungsrecht verschärft und es Individuen wie Firmen erlaubt, sich auf ihre religiöse Überzeugung zu berufen, wenn sie zum Beispiel Homosexuelle in Ihrem Restaurant nicht bedienten, oder wenn sie als Bäcker oder Floristen Hochzeiten von Schwulen und Lesben nicht belieferten. Zusätzlich punktete Trump bei Evangelikalen mit seiner harten Immigrationspolitik und seinem Einreiseverbot für Muslime.

Denn viele von ihnen wünschen sich ein weisses, protestantisches Amerika zurück; sie sehen Amerika weiterhin als Gottes auserwähltes Land. Und Trump gab ihnen mit seiner kämpferischen Rhetorik das Gefühl, jemand kämpfe für sie. Zudem unterzeichnete er medienwirksam einen Erlass zur freien Rede und der religiösen Freiheit und betonte dabei: «Zu lange hat die Bundesregierung ihre Macht als Waffe gebraucht, um gläubige Amerikaner zu schikanieren und sogar zu bestrafen.»

Moderner Kyros

Hoch angerechnet wird Trump zudem seine Unterstützung von Israel: Er hat die US-Botschaft nach Jerusalem verlegt, die Souveränität Israels über die Golanhöhen unterstützt und den Friedensvertrag mit den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgegleist. Zudem hat er sich klar gegen den Erzfeind Israels, den Iran, positioniert. Mit der Folge, dass Trump von vielen Evangelikalen als Präsident anerkannt wird, der mehr für sie getan hat, als alle Präsidenten vor ihm seit Ronald Reagan. Einige sehen in ihm einen neuen Kyros, der als persischer Kaiser den Israeliten die Rückkehr aus dem Exil ins heilige Land ermöglichte.

Die Tränen

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Selbsternannte «Propheten» beten für Trump
Kein Wunder, dass viele die Abwahl von Trump nicht akzeptieren können. Die Agentur «Christian Breaking News» übernimmt zum Beispiel den Vorwurf, dass ein Algorithmus in Michigan 69'000 Stimmen für Trump seinem Gegner zugerechnet habe. Evangelikale Berater unterstützen ihn beim Vorhaben, Klagen gegen Abstimmungsresultate einzureichen. So spricht Ralph Reed, der Gründer der Faith and Freedom Coalition, Trump das Recht zu, Nachzählungen anzufordern und Berichte über Wahlunregelmässigkeiten, einschliesslich Wahlbetrug, zu untersuchen. Dazu kommt eine Reihe von selbsternannten Propheten, die Trumps Sieg vorausgesagt hatten und jetzt daran festhalten, dass Gott ihn noch vier weitere Jahre im Weissen Haus «seinen Weg gehen lässt».

Die bittere Pille schlucken

Einer der selbsternannten Propheten hingegen, der kalifornische Pastor Kris Vallotton, entschuldigt sich, dass er diesmal falsch lag, nachdem er vor vier Jahren den Sieg von Trump und später auch dessen Nicht-Amtsenthebung prophezeit hatte. Auch Robert Jeffress, Senior-Pastor der First Baptist Church in Dallas Texas, und geistlicher Berater von Donald Trump, akzeptiert dessen Niederlage und schreibt, viele Christen hätten jetzt eine bittere Pille zu schlucken. Auf einem von Fox News veröffentlichten Kommentar fordert er sie aber auf, für Joe Biden zu beten, wie schon Paulus die römischen Christen aufgefordert hatte, für Kaiser Nero zu beten. Denn «die Tatsache, dass Gott Autoritäten eingesetzt hat, bedeutet, dass wir Gott gehorchen, indem wir der Regierung gehorchen.»

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Datum: 17.11.2020
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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