Gründungsjahr 1919
Zwei spezielle 100-Jahrfeiern von evangelischen Christen
100 Jahre Evangelische Volkspartei (EVP), 100 Jahre Freikirchenverband, und fast 100 Jahre Kirchenbund. Was hat das Gründungsfieber damals befeuert?
Die politischen Gräben
Die damalige Krisenzeit wurde auf dem Berner Hausberg Gurten am Samstag von Parteipräsidentin Marianne Streiff so beschrieben: Die Evangelische Volkspartei wurde 1919 gegründet, wenige Wochen nach dem Generalstreik. Damals war die Bevölkerung tief gespalten. Zwischen dem liberalen Bürgertum und der Arbeiterschaft klaffte ein Graben. Die Lage war prekär, die Stimmung aufgeheizt. Im aargauischen Brugg trafen sich 30 christlich motivierte Männer. Sie beschlossen, eine Partei der Mitte zu gründen mit dem Ziel, die gesellschaftlichen Gräben zu überbrücken und sich mit christlichen Werten für das Wohl der Bevölkerung einzusetzen. Erleichtert wurde die Gründung durch das 1918 eingeführten Proporzwahlrechts. Das neue Wahlsystem eröffnete auch kleineren Parteien eine Chance und brachte der Partei an den nächsten Parlamentswahlen prompt den ersten Sitz im Nationalrat.
Ein unsensibler Entscheid des Bundesrates
Aus der damals aufgeheizten sozial-politischen Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg, zu der sich noch eine hochgefährliche Epidemie, die Spanische Grippe mit weltweit rund 50 Mio. Toten gesellte, lässt sich auch das vom Bundesrat verhängte Versammlungsverbot für die Freikirchen erklären. Dieses war, und dafür fehlte der Landesregierung die Sensibilität, für die Gemeinschaften und Freikirchen existenzbedrohend. Sie mussten sich wehren, und weil die Evangelische Allianz aus strukturellen Gründen dazu nicht geeignet war, beschlossen damals 21 Männer in Aarau die Gründung des «Verbandes unabhängiger evangelischer Korporationen (Kirchen, Gemeinschaften, Gesellschaften und Vereine) der Schweiz», abgekürzt «Aarauer Verband». Dieser sollte sich nicht nur für die Interessen der Mitglieder bei Behörden einsetzen und ein öffentliches Sprachrohr bilden, sondern sich auch gegenseitig geistlich stärken und die Einheit fördern. Der Verband organisierte dazu bis in die 90er Jahre die biblisch-theologische Woche in Männedorf, jeweils mit hochkarätigen Referenten.
Viele Querverbindungen
Das erstaunliche: beide, die EVP und der VFG, sind heute, und das gilt auch für die Evangelische Allianz, fitter denn je. Zwischen ihnen gibt es zahlreiche Querverbindungen. Und es ist zum Beispiel für EVP-Mitglieder der Normalfall, dass sie sich auch in einer landes- oder freikirchlichen Gemeinde engagieren und damit wichtige Bindeglieder zwischen Kirchen und Politik sind. Auch zwischen Landes- und Freikirchen, aus denen sich die Mitglieder der EVP zu je rund 50 Prozent rekrutieren.Engagierte Kontakte zwischen SEK und Freikirchenverband
Auch die Landeskirchen suchten nach dem 1. Weltkrieg eine einheitliche Organisationsform und gründeten den Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK). Dessen Vorstandspräsident Gottfried Locher bedauerte bei seiner Eröffnungsansprache zum EVP-Jubiläum mit einem Augenzwinkern, dass sein Verband nicht mehr 100 Jahre erreichen werde. Denn exakt im 99. Jahr hat er sich durch eine Verfassungsänderung in die Evangelische Kirche Schweiz transformiert. Zum SEK schlossen sich damals die evangelische Tagsatzung und die 1858 entstandene Schweizerische reformierte Kirchenkonferenz zusammen. Der (noch)SEK umfasst 24 reformierten Kantonalkirchen, die Evangelisch-methodistischen Kirche und die Église Évangélique Libre de Genève in der Schweiz. Zwischen dem Freikirchenverband und dem SEK sollte es in der Folge zahlreiche Kontakte geben. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zum Beispiel gemeinsam Fragen rund um die Ökumene angegangen. Sogar ein gemeinsamer Kirchentag stand auf der Traktandenliste. Daraus wurde zwar nichts, doch SEA und VFG organisierten 1980 zum ersten Mal in Bern den Christustag.
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Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet