Die Kirche und die Megatrends (I)

Der Trend zur Verselbständigung

Die Zukunft der christlichen Gemeinde wird einem mittelalterlichen Kloster gleichen: Eine Gemeinschaft von Menschen, die nach bestimmten Regeln lebt und sich für ihr Umfeld verantwortlich weiss, ohne ihm seine Regeln aufzudrängen. So sieht es der methodistische Theologe Theo Schaad.

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St. George's Kirche im Stadtzentrum von Montreal, Quebec.
An der Jährlichen Konferenz 2011 der EMK hielt Pfarrer Theo Schaad einen Vortrag zum Thema «Die Evangelisch-methodistische Kirche und die Studie ‹Die Zukunft der Reformierten›». Wir bringen in loser Folge eine von der Zeitschrift Kirche&Welt überarbeitete und gekürzte Fassung dieses Referates. Es enthält eine Reihe von Impulsen für die Arbeit in Landes- und Freikirchen.

Einleitende Fragen an den Autor

Kirche und Welt: Theo Schaad, was hat Sie veranlasst, über die Möglichkeiten der Kirche in der sich wandelnden Gesellschaft nachzudenken?
Pfr. Theo Schaad: In seiner Schrift «Die Zukunft der Reformierten» beschreibt der Lausanner Religionssoziologe Prof. J. Stolz acht gesellschaftliche Trends, die für die Kirche wichtig sind. Ich habe mich gefragt, was sie für die EMK bedeuten.

Die gesellschaftlichen Veränderungen werden mehrheitlich als Gefahr für die Kirche verstanden. Sie verstehen sie als Chancen. Warum?
Das Evangelium hat eine Weltkultur geprägt. Es war treibende Kraft für die Entwicklung des Abendlandes bis heute. Es verliert nicht über Nacht seine Wirkung. Wenn Menschen daran glauben und eine Gemeinschaft bilden, sind sie Kirche – auch wenn diese sich in Zukunft vielleicht anders darstellen wird als heute.

Wie denn?
Das weiss zurzeit niemand. Aber ich stelle sie mir vor wie ein mittelalterliches Kloster: Eine Gemeinschaft von Menschen, die nach bestimmten Regeln lebt und sich für ihr Umfeld verantwortlich weiss, ohne ihm seine Regeln aufzudrängen. Und das Umfeld weiss, dass an diesem Ort Wesentliches für das Leben der Menschen geschieht und dass davon eine starke Einladung ausgeht.

Das Leben – ein Flickenteppich ...

Das Leben ist zu einem Flickenteppich von Bereichen geworden. Wir bewegen uns zwischen Arbeit und Freizeit, Familie und Kollegen, Ausbildung und Praxis, Kirche und Alltag wie zwischen Inseln, die nichts miteinander zu tun haben. Das war nicht immer so. Für den Menschen im Mittelalter war das Leben eine Einheit. Naturwissenschaften, Medizin, Politik und Recht wurden als grosses, in sich geschlossenes System verstanden, verbunden durch die Theologie und beaufsichtigt durch die Kirche.

Weniger Einfluss

Seit Jahrhunderten ist eine Entflechtung dieser gesellschaftlichen Teilsysteme im Gange. Die Reformation war ein Zeichen dafür, gleichzeitig hat sie aber den Vorgang auch gefördert. Von der Kirche aus gesehen, bedeutete es vor allem eines: Machtverlust. Sie verlor ihren Einfluss auf das Recht und die Naturwissenschaften, die Politik und die Wirtschaft, das Gesundheitswesen und zuletzt auch auf die Erziehung.

In Distanz

Was bedeutet das aber für eine Freikirche wie die EMK? Freikirchen sind selbst ein Ergebnis dieser Entflechtung, sonst würden sie sich nicht «frei» nennen. Sie haben sich nicht mit dem Staat eingelassen und bezahlten dafür den Preis, nicht als gesellschaftskonform zu gelten. Ihr Ansehen mussten sie sich durch ihre Botschaft und den Tatbeweis, dass der Glaube den Menschen zum Guten verändert, hart erarbeiten. Von Anfang an waren sie ein Gegenüber zur Gesellschaft.

Dies führte da und dort dazu, dass sie anfingen, sich von der Gesellschaft zu distanzieren. «Die Welt» und «weltlich» waren dann gleichgestellt mit den Ungläubigen, mit denen man sich nicht in dasselbe Joch einspannen soll. Es gab und gibt auch eine latente Wissenschaftsfeindlichkeit.

Auf Augenhöhe

Die von Stolz beschriebene «Entflechtung gesellschaftlicher Teilsysteme von Religion» führt dazu, dass sich diese Spannungen auflösen. Für den Menschen, der von einer Lebensinsel zur nächsten segelt, haben Glauben und Wissenschaftlichkeit, Geisteswirken und Management unter der gleichen Sonne Platz. Die Diskussion zwischen Theologie und Naturwissenschaft hat ihren gehässigen Ton verloren. Wenn heute Neurologen und Theologen über den freien Willen des Menschen diskutieren, tun sie das sehr ernsthaft. Das bedeutet, dass Religion und Theologie zwar ihren Einfluss auf diese Wissenschaften verloren haben, in der Frage nach dem Sinn des Lebens aber auf Augenhöhe mit diskutieren.

Wichtiger Beitrag

Für die Kirche heisst das, dass sie sich aus ihrer Angst vor dem Machtverlust herauslösen und sich wieder auf das besinnen kann, was ihr aufgetragen ist. Sie kann das Evangelium als ihren Beitrag zum Wohl der Menschen verkündigen, gleichberechtigt neben Philosophie und Medizin. Auch eine hierzulande kleine Freikirche wie die EMK kann ohne Minderwertigkeitsgefühle – aber auch ohne falsche Überheblichkeit – über Glauben, Liebe und Hoffnung sprechen. Die einzige Voraussetzung dafür ist in ihrer Botschaft selbst enthalten: Die Liebe zu allen Menschen.

Diesen Artikel hat uns freundlicherweise die Zeitschrift Kirche und Welt zur Verfügung gestellt.

Datum: 18.06.2012
Autor: Theo Schaad
Quelle: Kirche & Welt

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