Gemeindebau im Tessin

«Brücken zur Gesellschaft schlagen»

Durch Freunde finden Menschen mit Brüchen in der Biografie eine Heimat: Das Centro Cristiano in Mendrisio glänzt multikulturell und mit sorgfältiger Hilfe für Kinder und Bedürftige. – Besuch in einer anderen Freikirche.

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Im Saal des Centro Cristiano in Mendrisio sind an diesem Märzsonntag fast alle Stühle besetzt. 100 Erwachsene nehmen am Abendsmahlsgottesdienst mit Pastore Markus Zollinger teil. Im Erdgeschoss folgen 40 Kinder und Jugendliche ihrem Programm. Zur Gemeinde zählen sich, wie Zollinger im Gespräch erläutert, auch einige mit Tessinern verheiratete Deutschschweizerinnen, Italiener von jenseits der Grenze, aus Süditalien und aus Sizilien, ein Dutzend Brasilianerinnen mit Tessiner Gatten, eine Tamilenfamilie, Leute aus Ungarn, Kuba und Afrika, zwischendurch auch Asylbewerber.

Zusammen wachsen

Je vielgestaltiger eine christliche Gemeinde, desto eher reiben sich die Mitglieder. Rasch verstellen Unterschiede den Blick auf die Hauptsache: miteinander auf Jesus Christus hin zu wachsen und ihm ähnlicher zu werden. Geistliches Wachstum schliesst emotionales Reifen der Gemeindeglieder ein. Wie aber gelingt dies einer Gruppe mit Menschen aus vier Kontinenten?

Mehr und mehr Einheimische …

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Lieder für Jesus, den Retter und Freund: Lobpreis und Predigt sind italienisch.
Das Centro unweit des Bahnhofs Mendrisio hebt sich jedenfalls markant von einer durchschnittlichen kleinstädtischen Freikirche ab. Markus und Monique Zollinger nahmen 1983 den Auftrag der Pilgermission St. Chrischona an, im Südzipfel des Landes mit einer Missions- und Gemeindeaufbauarbeit zu beginnen. Sie starteten mit einer Handvoll Deutschschweizern, die zuvor die Stadtmission Lugano besucht hatten. Dann tauchten mehr und mehr Einheimische auf und wünschten Übersetzung. Schon in den Neunzigerjahren wurde auch italienisch gepredigt. Heute hören Deutschsprachige den Gottesdienst per Kopfhörer mit.

… und Migranten aus Übersee

Wie kam es zur Vielvölkergemeinde mit der unübersehbaren Gruppe der Brasilianerinnen? Zollinger: «Wir hätten sagen müssen: Wir wollen sie nicht – und hätten sie draussen stehen lassen müssen. Wenn man Gemeinde sein und offen sein will, wenn das Evangelium für alle ist, kannst du nicht sagen: Ich will sie nicht.» Einige Brasilianerinnen hätten bewusst eine evangelische Gemeinde gesucht. «Andere litten unter Einsamkeit, suchten Heimat, kamen zum Glauben an Christus und motivierten dann ihre Männer mitzukommen.»

Atmosphäre der Wertschätzung

Wie gelingt das kulturübergreifende Miteinander? Zollinger lächelt: Die Südländer schätzten die deutschschweizerische Pünktlichkeit, Präzision und Verlässlichkeit; «aber sonst ist die Kultur italienisch». Alemannische und Tessiner Mentalität ergänzten sich im Gemeindeleben gut – «man muss gegenseitig einfach ein bisschen grossherzig sein». Der Pastore, gebürtiger Zürcher, fördert das persönliche Anteilnehmen: Vom Bibelabend geht man nicht gleich heim, sondern plaudert. Die Gemeinde lädt zu Festen ein und bringt Männer zu Abenden zusammen.

Offenes Ohr für Nöte

Zollingers gehen auf Menschen zu. Sie bleiben auch auf der dritten Meile bei ihnen, steigen als Seelsorger in ihre Nöte hinab und halten die Gemeinschaft offen: «Einige sind nicht überzeugte Christen, sagen aber: Da gehe ich hin. Einer der neu zu uns Gestossenen sagte mir am Männerabend, dass er seit 20 Jahren in keiner Kirche war. Jetzt sei er so gut aufgenommen worden. Er kommt jeden Sonntag, will nichts verpassen…». Der Pastore bietet den in Italien erstellten Einführungskurs in den christlichen Glauben «Jesus nachfolgen» an. Im Frühling  ist wieder ein Ehekurs geplant.

Predigtreihe über emotionales Wachstum

Im Gottesdienst werden Loblieder an die Leinwand projiziert und von der Band zurückhaltend begleitet, so dass die Gemeinde sich singen hört. Dann spricht Zollinger eine gute Halbstunde über geistliches und charakterliches Reifen. Der US-Autor Pete Scazzero hat darüber ein Buch geschrieben, das die Chrischona-Gemeinden 2011 landesweit beschäftigte. Nun ist nach Zollingers Empfinden die Zeit auch in Mendrisio reif; er widmet dem Thema 2012 sechs Predigten.

«Gott braucht schwache und zerbrechliche Menschen»

Heute fordert er die Zuhörer auf, Schwachheiten und Mängel nicht auszublenden oder zu überspielen, sondern sie sich einzugestehen und mit Freunden anzugehen. «Wir müssen nicht alles können und nicht so tun, als hätten wir alles unter Kontrolle.» Die Bibel zeige, wie Gott Menschen mit grossen Problemen in Dienst genommen habe. Paulus habe eingesehen, dass seine Mängel ihn von Gott abhängig machten, und sie akzeptiert. «Gott braucht schwache und zerbrechliche Menschen. Daher sollen wir Grenzen annehmen.» Dies heisse nicht, Dinge zu dulden, die von Gott trennten, fährt Zollinger fort und ermutigt die Anwesenden, einander in ihren Schwächen beizustehen.

Professionelle Sozialarbeit

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Klare Worte in gediegenem Rahmen: Il pastore predigt über charakterliches Reifen.
Den Vorwurf der Sektiererei, der ‚Evangelisti‘ in Italien wie anderen katholischen Gebieten noch immer trifft, hat das Centro Cristiano mit professioneller diakonischer Arbeit aus der Welt geschafft. Für soziale Hilfe gründete Zollinger den Verein Mano aperta (Offene Hand). «Wir haben durch unsere sozialen Arbeiten alle Fenster nach aussen offen», sagt der Pastore, der sich als Schulden- und Budgetberater und Mediator ausbilden liess. Aktuell werden ausserhalb der Kindergarten- und Schulstunden 25 Kids von 7-19 Uhr im Centro betreut. Zudem verteilt das Centro dienstags im Rahmen der Initiative «Tischlein deck dich» Lebensmittel an Bedürftige. «Dadurch haben wir Kontakt zu den Sozialämtern im Mendrisiotto.»

Hilfsbereitschaft wärmt Herzen

Markus Zollinger verhehlt nicht, dass die Gemeinde ohne tragende Elterngeneration und lange bewährte Familien auskommen muss. «Hier ist die erste Generation. Wir können auf nichts von vorher zurückgreifen. Viele der Menschen, die neu zu uns stossen, haben einiges an Nöten auf dem Buckel und brauchen Hilfe. Das beansprucht uns stark.» Dies hat das Centro Cristiano nicht selbstbezogener und Zollingers trotz Rückschlägen nicht müde gemacht, im Gegenteil: «Unser Ziel in allem ist, Brücken in die Gesellschaft zu schlagen und zugänglich zu werden. Als Pastor und als Kirche transparent zu sein: Kirche nicht draussen vor dem Dorf, sondern als Teil des Dorfs.»

Mehr über die Kinderbetreuung und ‚Tischlein deck dich‘

Datum: 21.03.2012
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet

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