Islamisten abgeschlagen
Neue Freiheit in Marokko?
Die islamistische «Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung», die seit 2011 an der Regierung ist, erhielt bei den Wahlen in Marokko im September dieses Jahres nur ein Zehntel der 125 Abgeordneten, die sie bisher im Repräsentantenhaus hatte.
Mit nur 13 Sitzen wird die ehemalige Hauptpartei nun in der Opposition sitzen. Der Gewinner ist der Liberale Aziz Akhannouch, der für seine Nationale Versammlung der Unabhängigen 102 Abgeordnete erhielt. Akhannouch wurde zum neuen Regierungschef ernannt und von König Mohammed VI. beauftragt, eine neue Regierung zu bilden aus Parteien, die «dieselben Prinzipien und Werte» teilen.
Für Mustafa Akalay, einen renommierten marokkanischen Akademiker, Kunsthistoriker und Kulturmanager, «haben die Wähler entschieden, und das Volk hat eine überkonfessionelle Regierung gewählt». «Bei diesen Wahlen wurde die (islamistische) Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung von ihrer eigenen Wählerschaft, die von ihrer Schwerfälligkeit und ihrem zweideutigen und mit zweierlei Mass gemessenen Diskurs enttäuscht war, schwer bestraft und im Stich gelassen», betont Akalay.
Eine neue politische Phase
Nach einem Jahrzehnt mit einer von gemässigten Islamisten kontrollierten Regierung, die seinerzeit inmitten des arabischen Frühlings an die Macht gekommen war, freuen sich viele Marokkaner auf diese neue Phase. «Wir sind alle begeistert von dem politischen Wandel. Es handelt sich um eine neue Etappe auf dem Weg zu einem neuen Modell für die wirtschaftliche und menschliche Entwicklung Marokkos, das von einer Expertenkommission für einen Zeitraum von 15 Jahren, also bis 2035, entworfen wurde», erklärt Akalay. Er ist der Meinung, dass «eine neue Ära der Reformen anbricht, und es gibt gute Anzeichen für Veränderung, wie die Wahl von Bürgermeisterinnen in den drei wichtigsten Städten: Rabat, Casablanca und Marrakesch».
Dem Wissenschaftler zufolge hat die Bevölkerung ihre Enttäuschung «über die chaotische Verwaltung der Städte durch die Regierung und die Unfähigkeit ihrer Führer bei der Umsetzung einer brutalen neoliberalen Wirtschaftspolitik zum Ausdruck gebracht, die auf der Privatisierung strategischer Sektoren beruht, die wohlhabenden Klassen begünstigt und die Bedürftigsten bestraft».
Für Akalay muss die neue Regierung nun «die Errichtung eines Sozialstaates durch eine allgemeine soziale Absicherung anpacken, damit die Schwächsten in den Genuss von Sozialschutz und Subventionen kommen, die ihre Würde bewahren. Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es keine Demokratie. Eine bessere Bildung und Gesundheitsversorgung sowie das Recht auf eine menschenwürdige Arbeit sind soziale Grundrechte, die in der Verfassung von 2011 verankert sind und unverzüglich angegangen, gesetzlich geregelt und umgesetzt werden müssen», unterstreicht Akalay.
Religiöse Vielfalt
Ein weiterer Bereich der Gesellschaft, in den nach den Wahlen neue Erwartungen freigesetzt wurden, ist die religiöse Vielfalt. «Die Religion ist mit der Politik unvereinbar und sollte nicht in den öffentlichen Raum eindringen und auch nicht die Massen prägen, sondern sich auf den privaten Bereich beschränken», meint Akalay. Der Wissenschaftler erklärt, dass es in Marokko eine «religiöse Vielfalt gibt, die in Städten wie Tanger, wo der Franziskanerorden seit acht Jahrhunderten besteht, seit langem präsent ist».
Für die religiösen Minderheiten sollte der Regierungswechsel «Respekt vor ihren Überzeugungen und Glaubensbekenntnissen, d. h. Religions- und Kultusfreiheit, mit sich bringen, was eine effiziente religiöse Vielfalt und einen fruchtbaren interreligiösen Dialog begünstigen wird», betont er.
«Politischer Islam durch Wahlen erledigt»
Christen in Marokko sind ebenfalls dankbar für den Wechsel der Machtverhältnisse. «Wir danken Jesus, die Islamisten sind weg. Gott hat unsere Gebete erhört und wir haben jetzt die Regierung, die wir wollten», sagt Imounan, ein Gemeindegründer, der in Agadir lebt, gegenüber «Christianity Today». «Akhannouch ist ein Geschäftsmann. Ihm ist es egal, ob man die Sonne oder den Mond anbetet. Er wird dich nicht jagen», sagte ein anderer Christ der zweiten Generation.
Die spanische Nachrichten-Website «Protestante Digital» sprach mit einer Gemeinschaft von Christen in Marokko, die es «vorziehen, sich im Verborgenen zu versammeln» und die nicht den Wunsch haben, von der marokkanischen Regierung irgendwelche Genehmigungen zu verlangen, die aber erklärte: «Wir sind immer bereit, unsere persönlichen Interessen zu opfern, um den Interessen des Königreichs Marokko zu dienen.» Diese Christen sind «sehr stolz darauf, dass der politische Islam durch Wahlen verschwunden ist und nicht durch Putsche, wie es in Ägypten, Tunesien oder Algerien geschehen ist».
«Wir glauben, dass das Königreich Marokko eine einzigartige Referenz in der Region darstellt und sich in einem Prozess der friedlichen Machtübergabe durch Wahlen und die Anwendung der Gesetze befindet», so die marokkanischen Christen abschliessend.
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Autor: Jonatan Soriano / Reinhold Scharnowski
Quelle: Protestante Digital / Übersetzt und bearbeitet von Livenet