Ein Jahr Afghanistan
«Christen fehlen Vorbilder im Glauben»
Lara Lessing (Name geändert) hat ein Jahr als Entwicklungshelferin in Afghanistan gearbeitet. Wie ihre Arbeit in einer der abgelegensten Regionen des Landes aussah, wie sie Treffen mit afghanischen Christen erlebt hat und warum sie sich nun viel besser Bibelgeschichten vorstellen kann, erzählt sie im Interview.
Frau Lessing, Sie haben Ihren sicheren
Job als Krankenschwester aufgegeben, um als Entwicklungshelferin in
Afghanistan zu arbeiten. Was hat Sie dazu veranlasst?
Lara
Lessing: Ich hatte irgendwann das Gefühl, dass meine Zeit auf der
Kinderintensivstation vorbei ist. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht
genau, was ich stattdessen machen sollte. Deswegen habe ich zunächst
eine Gebetshausschulung im Gebetshaus Augsburg gemacht. In dieser Zeit
kam dann die Idee.
War dieser Entschluss eine Antwort auf Gebete?
Ja, auf jeden Fall. Ich denke, Gott war in diesem Prozess mittendrin. Er hat es so geführt, wie er es für richtig gehalten hat.
Warum haben Sie sich für Afghanistan entschieden?
Ein
Schwellenland, in dem bereits viele Hilfsorganisationen aktiv sind,
war für mich keine Option. Vielmehr wollte ich in ein Land, das
schwierig erreichbar ist. Ein Land, in dem wenige Organisationen aktiv
sind. Am Ende meiner Überlegungen sind nicht mehr viele Länder in Frage
gekommen. Eines dieser Katastrophenländer war Afghanistan. Das Land hat
mich fasziniert.
Sie haben ein Buch über Ihr Jahr in
Afghanistan geschrieben. In dem Buch verwenden sie einen Alias. Warum
ist diese Sicherheitsmassnahme notwendig?
Afghanistan ist ein kompliziertes Land. Deswegen will man den grösstmöglichen Schutz haben, der möglich ist.
Haben Sie auch vor Ort einen anderen Namen oder Biographie angenommen?
Nein,
vor Ort habe ich es als nicht notwendig empfunden. Andere haben aber
tatsächlich auch in Afghanistan einen anderen Namen angenommen. Ich habe
zum Beispiel auch offen über meinen Glauben gesprochen. Den Menschen
gegenüber habe ich nichts von mir verschleiert.
Wie liefen solche Gespräche über den Glauben ab?
Ich
konnte sehr offen über meinen Glauben sprechen. Allerdings immer mit
viel Respekt. Der ist in der afghanischen Kultur sehr wichtig.
Was bedeutet in dem Kontext Respekt?
Wenn
ich über meinen Glauben spreche, erkläre ich, woran ich glaube oder was
in der Bibel steht, ohne den Glauben der anderen in Frage zu stellen.
Welchen Einfluss hatte die Zeit in Afghanistan und solche Gespräche auf Ihren Glauben?
Mein
Glaube hat sich auf jeden Fall weiterentwickelt. Ich habe auf einem
ganz neuen Niveau gelernt, Gott zu vertrauen und ihm viele Dinge
abzugeben. Ausserdem konnte ich mir viele Geschichten, die in der Bibel
beschrieben sind, viel besser vorstellen. Das liegt daran, dass
Afghanistan ein Land ist, in dem die Menschen teilweise noch so
ursprünglich wie zu biblischen Zeiten leben.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Jesus
sagt in Lukas 14, dass man sich selbst nicht zu hochschätzen soll und
lieber am Ende des Tisches Platz nehmen solle. Zwar wird in Afghanistan
nicht am Tisch gegessen, aber das Prinzip der Rangordnung ist identisch.
Dem Gastgeber obliegt es festzulegen, wer welchen Platz einnimmt. Je
weiter vorn eine Person sitzt, desto angesehener ist sie. Ein anderes
Beispiel betrifft die Art der Fortbewegung. Oft habe ich Männer mit
ihren Frauen gesehen, die auf Eseln ins nächste Dorf gewandert sind. Das
hat mich an Maria und Josef erinnert.
Hatten Sie während ihres Aufenthalts in Afghanistan Kontakt zu einheimischen Christen?
Ja, den hatte ich unregelmässig. Das war natürlich eher kompliziert.
Open
Doors listet Afghanistan auf Platz 2 des Weltverfolgungsindexes.
Christen werden verfolgt und können ihren Glauben nur sehr beschränkt
und im Geheimen leben. Wie haben Sie afghanische Christen «gefunden»?
Die
Christen finden dich. Das liegt daran, dass es keine Gottesdienste oder
offizielle Kirchen gibt, in denen sich Christen treffen. Viele wissen
aber, dass wir Entwicklungshelfer Christen sind und suchen dann den
Kontakt zu uns. Oft wollen sie uns nur kennenlernen oder kommen mit
Fragen zu uns.
Was benötigen die Christen vor Ort am meisten?
Die
Christen in Afghanistan brauchen ganz viel Lehre. Es gibt kaum
Möglichkeiten vor Ort Pastoren auszubilden. Natürlich lesen die Christen
viel in der Bibel, aber eine Erklärung oder gar Auslegung fehlt ganz
oft. Also, es fehlen Menschen, die sie an die Hand nehmen oder ihnen im
Glauben ein Vorbild sind.
Ist das etwas, das Entwicklungshelfer leisten können?
Mehr
Raum in unserer Arbeit nimmt definitiv die humanitäre Hilfe ein. Das
ist auch der offizielle Grund unserer Anwesenheit im Land. Dennoch
versuchen wir natürlich auch, Hilfe für Christen zu leisten. Das war uns
wichtig.
Wie sah ihr Alltag ausserhalb der Treffen mit Christen aus?
Wir
sind gemeinsam als ausländische Mitarbeiter mit einer Gebetszeit in
den Tag gestartet. Anschliessend haben wir unsere Sachen gepackt und sind in
verschiedenen Teams mit dem Auto in die verschiedenen Dörfern gefahren. Dort
hat unser Team Frauen unterrichtet. Inhaltliche Schwerpunkte waren
Hygiene oder das Verhalten vor und nach der Geburt. Denn in Afghanistan
ist die Sterberate bei Neugeborenen unglaublich hoch. Nach den
Unterrichtseinheiten kamen oft viele Frauen mit medizinischen Fragen zu
mir. Nach dem Mittagessen gab es meistens noch eine weitere
Unterrichtseinheit. Zu Hause war ich meistens 17 oder 18 Uhr.
Das
klingt nicht stressfreier als ihr Alltag auf der Kinderintensivstation
in Deutschland, dazu noch in einem fremden Land und das allgegenwärtige
Leid. Inwiefern hat Ihnen die Situation zu schaffen gemacht?
Grundsätzlich
war es eine schöne Erfahrung. Mit der Zeit zehrt das aber natürlich
schon an den Nerven. Ich hatte oft das Gefühl der Ohnmacht, gerade im
Hinblick auf das viele Leid.
Gab es Momente des Zweifelns an Gott?
Das
würde ich nicht sagen. Von meiner Arbeit aus Deutschland kenne ich
Leid. Auch da habe ich sehr viele Kinder sterben sehen. Vielmehr habe
ich Gottes gutes Wirken in vielen Situationen gesehen.
Was hat Sie am meisten an Afghanistan überrascht?
Ich
habe damit gerechnet, dass mir mit viel Argwohn begegnet wird.
Stattdessen sind die Menschen trotz der Situation im Land unglaublich
freundlich und offen.
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Autor: Martin Schlorke
Quelle: PRO Medienmagazin