Präsent im Rotlichtmilieu
Gespräche mit Frauen, Freiern und Menschenhändlern
Peter und Dorothée Widmer sind regelmässig im Zürcher Rotlichtmilieu unterwegs. Das Ehepaar setzt sich für Frauen ein, die vom Rest der Gesellschaft vergessen werden. Sie haben den Verein «Heartwings» gegründet und helfen zur Prostitution gezwungenen Frauen, aus den Fängen ihrer Händler zu entkommen. Peter Widmer erzählt im Interview von seinen Erfahrungen.
Livenet: Peter Widmer, das Menschenhandel vor unserer Haustüre passiert, ist vielen nicht bewusst. Wie gelangen diese Frauen überhaupt in die Schweiz?
Peter Widmer: Die Frauen kommen fast ausschliesslich aus sehr armen Ländern. Von Freunden und Bekannten werden sie unter falschen Vorwänden in die Schweiz gelockt. Sie stehen dann hier mit ihren Koffern und bekommen keine Arbeit. Die einzig «legale» Arbeit ist die in der Bar oder das Kabarett. Sie geraten in eine Schuldenspirale, da sie ihrer Schlepperbande bis zu 40‘000 CHF für die Reise abzahlen müssen, um von Westafrika in die Schweiz zu kommen.
Welches Ausmass hat der Menschenhandel in der Schweiz?
Beim Menschenhandel gibt es verschiedene Skalen, von Stufe 1 bis 10. Stufe 1 wäre zum Beispiel, wenn ein Opfer in einer überteuerten Wohnung lebt. Eine Abhängigkeitssituation entsteht beispielsweise dadurch, dass die Frau die Sprache nicht spricht. In der Stufe 5 finden vermehrt Kontrollen statt. Es wird in Gruppen angeschafft und das Geld muss abgegeben werden. In der schwerwiegendsten Form geht es um massive Gewalt und Drohungen. Es wird beispielsweise gedroht, dass die Kinder im Heimatland umgebracht werden. In der Schweiz trifft man alle Formen an – je tiefer man gräbt, desto schlimmer wird es. Menschenhandel ist aber immer sehr versteckt. Die Frauen sind instruiert, wie sie Auskunft geben sollen und sind Teil des Systems.
Wer steckt hinter dem Menschenhandel?
Es ist immer ein organisiertes Verbrechen, oft stehen Clans dahinter. Jemand bringt die Frauen, jemand holt die nötigen Bewilligungen für sie ein. Ein anderer schaut, dass sie arbeiten können.
Wie sieht das Leben dieser Frauen in der Schweiz aus?
Die Frauen werden schlimmer behandelt als eine Schweizer Kuh. Die Schweizer Kuh wird im Leben einmal verkauft und kann in der Nacht schlafen. Die Frauen können nie ruhig schlafen. Sie arbeiten auf dem Strich von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens. Sie werden kontrolliert, müssen bis zu 30 Freier pro Nacht bedienen. Niemand schaut, ob ihnen etwas angetan wird. Das ist die totale Qual. Wir sehen es in den Blicken der Frauen, wenn sie aus den Autos der Freier steigen. Wir sehen die Atmosphäre des Missbrauchs in den Augen und im Verhalten der Frauen. Es ist eine Traurigkeit spürbar.
Wie schaffen Sie es, mit den Opfern eine Vertrauensbasis aufzubauen?
Die einzige Möglichkeit ist es, abzutauchen in diese Welt, dort wo sie sind viel Zeit zu verbringen. Es herrscht eine beständige Rotation im Milieu, daher braucht es auch viel Geduld. Wir versuchen bei unserer Arbeit ganzheitlich zu sein. Der Menschenhandel wird von der Männerseite betrieben – von den Konsumenten und den Zuhältern. Daher sind wir als Ehepaar unterwegs. Auch Jesus hatte Kontakt zu den schlimmsten Sündern. Wir fordern etwa Freier heraus, nachzudenken und führen Gespräche mit Capo-Frauen und -Männern.* Das schönste ist, wenn diese Menschen Veränderungen erleben und dies im Milieu Wellen wirft. Das ist aber ein langer Prozess.
Wie geht es den Frauen?
Sie haben eine dicke Schale, denn sie müssen sich schützen. Die meisten haben sich wie abgespalten von ihrem Körper. Wenn ein Freier sie fragt, sagen sie, dass sie die Arbeit gerne machen. Wenn sie mit uns ein Wegstück gehen, können sie offen sagen, wie sie es empfingen und wie schwierig es für sie ist.
Wie finden sie einen Ausweg aus der Situation?
Jene, die wirklich aus diesem Labyrinth heraus wollen, kommen zu uns. Wir helfen Schritt für Schritt. Als erstes muss ihr Herz Heilung erleben. Dann braucht es aber auch konkrete, praktische Hilfe. Es fängt mit einem Deutschkurs an, dann werden ihnen andere Wohnmöglichkeiten geboten und ein Praktikumsplatz für sie gesucht. Sie sollen rauskommen aus dem Milieu und aus den oft hohen Schulden. Manchmal müssen wir sie regelrecht von den Zuhältern abkaufen. Erst nach zwei bis drei Monaten, in denen sie viele Emotionen durchmachen, tauen sie auf und können wieder arbeiten und in den normalen Arbeitsprozess eingegliedert werden. Dies ist eine riesige Herausforderung. Sie müssen kleine Schritte machen und die entstandenen Wunden müssen von innen heilen. Eine Narbe bleibt aber immer.
*Capo-Frauen und -Männer sind der verlängerte Arm der Zuhälter. Sie bestimmen, wer wo anschaffen darf und sammeln das Geld ein.
Peter und Dorothée Widmer führen an der StopArmut-Konferenz am 2. November in Bern den Workshop «Menschenhandel Schweiz: Hineintauchen – Erkennen – Handeln» durch.
Webseite:
Verein Hartwings
StopArmut
Autor: Amy Chaclan
Quelle: Livenet / StopArmut 2015