Berufung

Wo ist mein Platz?

«Ich habe eben keine Berufung!» Verunsichert sitzt mir die junge Frau gegenüber. Wir haben über verschiedene Möglichkeiten des Engagements in Gottes Reich gesprochen. «Kann ich mir denn das alles überhaupt überlegen, wenn ich doch keine Berufung habe?»

Die unter Christen gängige Auffassung von «Berufung» wird meistens verbunden mit einer ganz spezifischen Aufgabe, womöglich hauptamtlich ausgeführt. Nur bestimmte Christen haben diese Berufung. Die andern sind schon auch Christen. Aber – sie sind vielleicht für Gott doch nicht so wichtig wie die andern …?

Berufen – wozu?

Berufung wird also mit einer Tätigkeit identifiziert. Und (oft unbewusst) wird sie damit zur christlichen Art, etwas zu werden, Bedeutung zu erlangen. Ich bin so viel wert, wie ich zu leisten vermag. Meine Leistung wird zur Quelle meines Selbstwertgefühls. Was geschah eigentlich bei der Berufung der ersten Jünger?

«Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und seinen Bruder Andreas, wie sie gerade ihr Netz auswarfen; sie waren Fischer. Jesus sagte zu ihnen: ‹Kommt, folgt mir! Ich mache euch zu Menschenfischern.›» (Markus 1, 16)

«Dann stieg Jesus auf einen Berg und rief von seinen Jüngern die zu sich, die er für eine besondere Aufgabe vorgesehen hatte. Sie kamen zu ihm, und er setzte sie ein als die Zwölf. Sie sollten ständig bei ihm sein. Sie sollten dann auch von ihm ausgesandt werden, um die Gute Nachricht zu verkünden, und sollten die Vollmacht bekommen, die bösen Geister auszutreiben.» (Markus 3, 13–15)

Berufen zur Gemeinschaft – der Lebensraum

Berufung hat nichts mit Leistung zu tun, sondern mit einer Einladung: Kommt! Das ist die Einladung zur Beziehung mit Jesus. Unsere Grundberufung ist der Ruf nach Hause, in die Gemeinschaft mit Gott durch Jesus Christus. Seit dem Sündenfall ist der Mensch heimatlos, auf der Suche nach seiner Identität. Mit grösster Anstrengung versucht er, sich Bedeutung zu verschaffen, etwas zu leisten, um darin Sinn für sein Leben zu finden.

In Christus findet er zum Vater nach Hause und gewinnt damit seine ursprüngliche Identität zurück. Nicht Identität durch Leistung, sondern Identität durch Zugehörigkeit zum Schöpfer!

«Er hat uns gerettet und uns dazu berufen, ihm ganz als sein Eigentum zu gehören – nicht wegen unserer guten Taten, sondern aus seinem eigenen freien Entschluss. Ihm gehören wir aus reiner Gnade, wie er sie uns durch Jesus Christus geschenkt hat schon vor aller Zeit.» (2. Timotheus 1, 9; vgl. 1. Korinther 1, 9)

Berufen zur Nachfolge – der Lebensweg

«Folgt mir!» Das heisst, in der Nähe von Jesus zu bleiben und sich von ihm prägen zu lassen. Unterwegs sein mit dem, der von sich sagt: Ich bin der Weg!

Sein oder Tun – worum geht es Jesus? Immer wieder bin ich gefährdet, durch mein Tun beweisen zu wollen, dass ich für Gott von Nutzen bin. Hoffentlich wird Gott das auch entsprechend honorieren und meine Wünsche erfüllen. Erlebe ich das nicht, beschleicht mich die Ungewissheit: Genüge ich wirklich? Bin ich angenommen?

So leiste ich noch mehr – und unbewusst benutze ich die Menschen, denen ich diene, als Mittel zum Zweck: Etwas für sie zu leisten, gibt mir ein gutes Gefühl. Es stärkt meine Identität! Ich diene ihnen also nicht, weil ich meine Identität in Christus gefunden habe, sondern damit ich sie erhalte, oder mindestens bestätigen kann.

Berufung durch Jesus heisst: Mit ihm unterwegs sein – einfach, weil er Gott ist und mich in seiner Nähe haben will! Die Beziehung zu Jesus ist kein «Zusatzpensum» zu unserer Arbeit, die Beziehung zu Jesus ist unsere eigentliche Berufung!

«Kommt zu mir, alle, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt, und ich werde euch Ruhe verschaffen. Ich quäle euch nicht und sehe auf niemand herab. Stellt euch unter meine Leitung und lernt bei mir; dann findet euer Leben Erfüllung.» (Matthäus 11, 28+29)

Berufen zu bestimmten Aufgaben – die Platzanweisung

«Ich mache euch zu Menschenfischern.», «… rief zu sich, die er für eine besondere Aufgabe vorgesehen hatte.» Ja, es gibt sie, die spezifische Berufung für eine besondere Aufgabe! Aber wichtiger ist, dass Jesus an uns arbeitet, unseren Charakter formt und unsere Persönlichkeit entfaltet. Er weist uns dann den spezifischen Platz zu.

Ich staune, wie Jesus selbst das aus seiner Vaterbeziehung gelebt hat. Er hat sich nicht selbst getrimmt und angestrengt, ein guter Sohn zu sein. Er hat Gemeinschaft gepflegt und beobachtet: «Der Sohn kann nichts von sich aus tun; er kann nur tun, was er den Vater tun sieht. Was der Vater tut, genau das tut auch der Sohn.» (Johannes 5, 19) Daraus können lang- oder kurzfristige Aufgaben wachsen, haupt- oder nebenamtliche, es können verschiedene Teilaufgaben sein. Für jedes seiner Kinder hat Gott eine ganz spezifische Idee, wie er es einsetzen und zur Entfaltung bringen kann.

Gott ist kreativ

Und wo ist mein Platz? In der Bibel gibt es eine Fülle von unterschiedlichen Geschichten, die auf Anhieb klar machen: Gott ist viel zu kreativ, als dass er sich an ein Berufungsschema halten würde. Da sind die dramatischen Berufungserlebnisse – sowohl bei der Grundberufung in seine Gemeinschaft, wie bei spezifischen Berufungen und Beauftragungen. Aber wir begegnen auch den «stillen Prozessen», die man kaum wahrnimmt. Und doch sind sie häufiger als die dramatischen! Dieselben Personen erleben Gott in seinem Führen einmal so, das nächste Mal so. Auch wenn uns das verwirrt, unsere Identität bleibt unangetastet: Wir bleiben sein geliebtes Kind, das genügt. «Du, Herr, bist mein Hirt. Deshalb kenne ich keine Not. …Auf sicheren Wegen leitest du mich, dafür bürgst du mit deinem Namen.» (Psalm 23)

Lesen Sie die Geschichten von Mose, Jesaja, Jona, Elia, Paulus, Apollos, Timotheus, Philippus und Barnabas unter diesem Gesichtspunkt. Eine spezifische Berufung ist in der Bibel in den seltensten Fällen eine ganz individuelle Angelegenheit. Es ist keine private und völlig persönliche Erfahrung, sondern entwickelt sich in den meisten Fällen durch Kontakte, Beratungen und Anleitungen von Menschen. Christus hat Paulus ganz direkt und dramatisch berufen (Galater 1, 11–16), aber seinen Platz fand er durch Barnabas (Apostelgeschichte 11, 25) und diese Gemeinde beauftragte ihn mit dem Missionsdienst (Apostelgeschichte 13, 1–4). Im Neuen Testament spielen die Gemeinde oder einzelne Christen in der Berufung zum Dienst eine entscheidende Rolle.

Was hast du vor?

Wir sollen uns also zusammen mit anderen Christen fragen: Herr, was hast du mit mir vor? Wo ist mein Platz, welchen Dienst soll ich tun? Es lohnt sich, diese Fragen mit vertrauten Menschen Gott zu stellen! Eine innere Überzeugung und eine sachliche, von aussen kommende Bestätigung wirken im Normalfall zusammen. Der eine braucht eine starke Ermutigung: «Das sehen wir für dich! Geh vorwärts – wir unterstützen dich.» Der andere muss hinterfragt werden: «Ist dir klar, weshalb du diesen Weg wählen willst? Käme dieser oder jener Schritt nicht vorher? Weisen deine Begabungen nicht in eine andere Richtung?»

Wenn Berufung in erster Linie ein Leben als Kind Gottes bedeutet, dann kommen wir auf unserem Weg immer wieder an Gabelungen, wo wir neue Entscheidungen treffen müssen. Manchmal sind Kursänderungen angesagt. Berufung wird damit letztlich zur Vertrauensfrage: Glaube ich wirklich, dass Gott mich gut führt?

«Dankt Gott in jeder Lebenslage! Das will Gott von euch als Menschen, die mit Jesus Christus verbunden sind. Unterdrückt nicht das Wirken des Heiligen Geistes. Verachtet nicht die Weisungen, die er euch gibt.» (1. Thessalonicher. 5, 18+19)

Berufen zur Sendung – die Bevollmächtigung

«… dann auch von ihm ausgesandt werden …», «… und Vollmacht bekommen …»

Berufung, Nachfolge, Aufgabe, Sendung, Bevollmächtigung: Eines wächst aus dem andern heraus und ist voneinander abhängig. Die unverzichtbare Grundlage ist die Berufung, das neue Leben in Christus.

«In der Gemeinde von Antiochia gab es eine Reihe von Propheten und Lehrern … Als (die Gemeinde) einmal für einige Zeit fasteten und sich ganz dem Gebet widmeten, sagte ihnen der Heilige Geist: ‹Gebt mir Barnabas und Saulus für die besondere Aufgabe frei, zu der ich sie berufen habe!› Nach einer weiteren Zeit des Fastens und Betens legten sie den beiden die Hände auf und liessen sie ziehen. So wurden Barnabas und Saulus vom Heiligen Geist ausgesandt und auf den Weg geschickt.» (Apostelgeschichte 13, 1–4)

Meiner Berufung treu bleiben!

Wichtig ist vor allem, die Beziehung zu Jesus Christus zu vertiefen. Im Unterwegssein mit ihm kristallisiert sich ein «roter Faden» heraus – meine Grundbegabungen und Herzenswünsche werden erkennbar. (Epheser 4, 11–13)

Die spezifischen Aufträge – kurz- und langfristige – orientieren sich sehr oft an diesem roten Faden. Der rote Faden hilft, Prioritäten zu erkennen und herauszufinden, was nun wirklich mein Auftrag sein könnte. Das herauszufinden, ist eine anspruchsvolle Herausforderung. Sie treibt mich ins Gespräch mit Gott und den Mitchristen! Sie fördert die Beziehung zu Jesus. Hmm – wozu bin ich berufen? Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Entdecken des Reichtums Ihrer Berufung!

(Büchertipp: Magnus Malm, «Gott braucht keine Helden», Mitarbeiter zwischen Rolle und Wahrhaftigkeit, 272 S., R. Brockhaus Verlag; Gordon McDonald, «Ordne dein Leben», Perspektiven für den Umgang mit dem Leben und der Zeit, 180 S., Projektion J Verlag.)

Martin Voegelin (51) war Jugendsekretär des Bundes FEG bevor er vor 15 Jahren die Leitung der Schweizer Allianz Mission (SAM) übernommen hat. Er lebt mit seiner Familie in Winterthur.

Autor: Martin Voegelin

Datum: 13.04.2007
Quelle: Impuls